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I)r. me6. ksermann Klencke.
Menschen die wahre menschliche Freiheit, machen ihn zum Ebenbild des schöpferischen Gottes. Man begeht hier gewöhnlich die große Verwechslung der Begriffe, daß man glaubt, Leute von hoher Intelligenz wären selbstverständlich auch Leute von hoher Vernunft und von selbstständigein Urtheil, von Charakter. Es giebt aber, und dies ist sogar die Mehrzahl, und sogar die, welche der Staat zu seinem Dienste bevorzugt, es giebt mehr Leute, bei denen eine Gehirnpartie einseitig hoch entwickelt ist, und die deswegen hohe Stellungen bekleiden, im klebrigen aber gehören sie zum Haufen. Intelligenz und Vernunft (letztere als harmonische Ausbildung aller Geisteskräfte gedacht) gehen gewöhnlich in unserem Culturzustande nicht parallel und in dieser Beziehung ist unsere Cultur ungesund. Sie erzieht eine Menge Talente, aber keine hohen Menschen von harmonischem Wesen und Freiheit in selbstständigem Urtheil und selbstständiger Willenskraft.
Was ist denn für ein Unterschied zwischen einem Ameisenhaufen, in dem jedes Individuum seine Rolle hat, diese Berge ebnen, jene Strohhalme herbeischleppen, die todte Individuen fortbringen und jedes seine Bahn zieht zu bestimmtem Zwecke, und dem Getriebe einer Großstadt, wo schließlich auch Jeder um sich zu nähren und zu vermehren tummelt und treibt, außer daß wir Menschen die Fähigkeit haben über diese unsere Arbeit und unser ganzes Wesen und Treiben nachzüdenken und unser Leben nach unseren Idealen zu gestalten. Von wie Vielen wird nun aber die Fähigkeit gebraucht? Wieviele wachen ihr ganzes Leben lang nicht auf, und wenn sie einst sterben, muß ihnen sein wie dem Müller, der anfwacht, wenn seine Mühle steht und das geschäftige Klappern aufhört.
Es giebt ein Sprichwort: Des Volkes Stimme ist Gottes Stimme, dagegen steht der Ausspruch Schillers: Doch der Schrecklichste der Schrecken,
ist der Mensch in seinem Wahn. Es ist ja richtig, daß das dunkle Gefühl, die sogenannte Zeitstimmung, manchmal sich als gesunder und treffender erweist, als der logische Scharfsinn gelehrter Männer, die in gewissen Ideen blind hesangen sind, aber ebenso oft wird dieser Volksinstinkt irregeleitet und schlau benutzt von Politikern und in- trignanten Zeitungsschreibern, ebenso oft ist die öffentliche Meinung verfälscht und ungerecht. Wie und woher entsteht die öffentliche Meinung, wie wächst sie so schnell und erlangt solche unwiderstehliche Macht? Es wäre, um diese Frage zu beantworten, eine analoge psychologische Analyse nothwendig, wie sie die Mathematik in der Differential- und Integralrechnung hat um die Gesetze zu finden, nach denen sich die Veränderungen stetig ab- und zunehmender mit einander in Verbindung stehender Größen bestimmen lassen.
Wie der einzelne Mensch Sympathien und Antipathien, Stimmungen hat, denen gemäß das Bild, das er sich von der Welt macht und was er in der Welt treibt, ansfällt, so giebt es eine Ge- sammtstimmung eines Sammelindividnnms, einer Gemeinde, einer Berufsart, eines Standes, einer Nation, wo dann das Einzelindividunm nur als Theilseele, wie ich es nannte, anzusehen ist, als Theilseele, die von der Gesammtstimmnng des Ganzen und seinem Organismus bedingt und bestimmt wird. Sv entspricht die sogenannte öffentliche Meinung, die Mode, gewisse allgemeine Liebhabereien, gewisse krankhafte Erscheinungen, Geistesepidemien (wie man von unserer Zeit sagt, daß der Größenwahnsinn epidemisch sei), gewisse Verbrechenssorten, die immer wiederkehren, sie entsprechen der Stimmung des Gesammtorganismns, dem der Einzelne angehört und von dem er Färbung und Stimmung als Kind seiner Zeit und seines Volkes erhält. Diese Gesammtstimmnng aber ist nun wieder einestheils ein Produkt geschichtlicher Ereignisse und eines gewissen Ganges der Cultur, andererseits ein Produkt maßgebender bahnbrechender Männer, die neue Ideen dein Zeitgeiste einmeißeln mit der Wucht ihrer Persönlichkeit; oder social hochstehende Persönlichkeiten bestimmen durch ihre Tracht und ihren Geschmack den Geschmack der Kreise, deren Stolz es ist, ihren Umgang zu bilden, und dann weiter den Geschmack der Leute, die es jenen gern gleichthun möchten.
Daß jetzt z. B. die Musik die Modeknnst ist, wie vor 100 Jahren die Dichtkunst herrschte, kommt daher, daß bei der hochangespannten Arbeit, die alles Denken und alle Willenskraft in Anspruch nimmt, sich die Menschheit als Erholung und Mittel der Erhebung eine Kunst erwünscht, die kein selbstständiges Mitarbeiten, keine aetive Betheilignng des Genießenden verlangt, der man sich willenlos hin- giebt. Die Clavierseuche aber, daß jedes ob ohne oder mit Talent Clavier klimpert, ist der Ausdruck dieses Geschmackes, da das Clavierspiel am leichtesten zu erlernen ist und auch ohne Talent mechanisch ausgeübt werdeu kann — allerdings, fragt mich nur nicht wie! Daß plötzlich ein Lied, eine Melodie wie jetzt: „Mutter der Mann mit dem Coaks ist da" über ganz Deutschland sich unaufhaltsam verbreitet, daß auf einmal der gebildete und ungebildete Pöbel mit einem Spielzeuge wie Cri Cri sich beschäftigt, ob einst alle Welt für die Griechen und ihre Befreiung mit Lord Byron schwärmte oder Kosciusko's Name auf allen Lippen war und Polenlieder erklangen, ob dann Lederstrumpf und die Jndianergeschichten an die Reihe kamen, alles dies geschieht nach dem Gesetze der Nachahmung, der geistigen Ansteckung. Denn von Ansteckung geradezu muß man reden, weil die schnelle