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Die Erziehung einer neuen Generation.
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unaufhaltsame Verbreitung, das widerstandslose Er- grisfenwerden ganz so ist, wie bei dem Gange von Seuchen und ansteckenden körperlichen Krankheiten.
Es giebt eine Krankheit, Chorea, von den Franzosen t'oli.6 inrmerckairo genannt (Muskeltollheit) geistreich übersetzt, die namentlich bei Kindern verkommt, so daß jede zweckmäßige Bewegung also z. B. Greifen nach einem Wasserglas re., durch unzweckmäßige unwillkürliche Bewegungen gestört und vereitelt wird. Oft kommt diese Krankheit nach Gelenkrheumatismus vor. Man hat zu wiederholten Malen beobachtet, daß ganze Schulklassen von Mädchen von dieser Krankheit ergriffen werden, wenn eine einzelne Schülerin mit dieser ausgeprägten Krankheit unter ihnen war. Von einem Bacillus ist hier nicht die Rede, es ist eine Störung in dem psycho-physischen Mechanismus. Man beobachte nur einmal in einer Versammlung, deren Interesse durch einen geistreichen Vortrag oder eine langweilige Ceremonie gefesselt ist, wie sofort ein Sturm von Hnstenanfällen lvsbricht, nachdem Einer die heilige Stille mit Husten gestört hat, wie Einer des Anderen Stellung der Füße oder Greifen mit den Händen über das Gesicht oder Kops nachahmt ganz ohne Bewußtsein unwillkürlich. Durch den Anblick oder das Gehör allein werden in uns die gleichen Mnskelcentren erregt, die bei dem Ersten in Bewegung gesetzt sind. Und wie mit den Mnskelcentren, so ist es auch mit den Vorstellnngscentren. Die gleichen Vorstellungen werden leicht ausgelöst, wenn der Wille schwach oder sonst irgendwo anders beschäftigt ist (UFpnolisnE).
So bildet sich in Familien oft eine ganz gewisse Art und Tonfall des Sprechens aus, eine gewisse charakteristische Art des Gesichtsausdrucks und zuletzt auch des Denkens. So bildet sich in jedem engeren Kreise eine gewisse Art des Denkens und Empfindens aus und auch in jeder Nationalität eine gewisse Art des Gesichtsausdrucks, mit der Zeit auch der Körpergestaltung, ein Nationalgeist. Diese Volksseele, Nationalgeist, Familienzug ist ja einmal bedingt durch die äußere Umgebung und Lebensbedingungen, zum andern Theil aber durch die kräftigen Individuen, die eigenartig entwickelt ihren Genossen ihr Wesen aufstempeln. Diese Gemeinsamkeit des Denkens und Empfindens, daß nicht das eigene Urtheil herrscht und gewisse überlegene Gründe, sondern die Jdeenverbindungen der Kindheit, Umgebung, des Interesses erklärt nun auch leicht die geistige Ansteckung.
Ich selbst habe früher als Irrenarzt eine ganze Familie behandelt, in der ein Glied nach dem anderen mit denselben Wahnideen, derselben Angst und Melancholie uns gebracht wurde, erst die Mutter, welche der Mann gepflegt hatte, als bald der Mann, bald darauf ein 13 jähriges Mädchen,
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welches seinen Vater gepflegt hatte, und dann ein 10 jähriger Junge, alle ohne erbliche Belastung und niit ganz demselben Charakter des Irreseins. Allerdings war die ganze Familie von Kind aus wenig willenskräftig und schwach angelegt. Wie es mit dem Irrsinn ist, ganz so verhält es sich mit dem Verbrechen. Es giebt verbrecherische Neigung durch geistige Ansteckung von den Eltern her, und dann haben wir auch Beispiele von Verbreitung einer Berbrechensart durch Zeitungsberichte, phantasievolle Erzählungen davon rc. Was nützt es einem Kinde, daß ihm in der Schule gesagt wird: Du sollst nicht lügen, stehlen, wenn es zu Hause täglich lügen hört, wenn es seine Eltern geradezu das Stehlen als Kunst ausüben sieht. Die dauerhafteste« Jdeenassociationen sind die im Kindesalter entstehenden und in diesem Alter findet bei den Kindern aus Verbrecherfamilien oder Familien von schlechter Gesinnung geradezu eine Erziehung zum Verbrechen statt, welche Zuchthausstrafen rc. später unmöglich wieder gut machen können. Kinder aber aus besseren Familien werden früh blasirt und altklug, weil sie den Widerspruch zwischen der idealen Lehre der Schule und dem häuslichen Leben mit ihren scharfen frischen Sinnen bald wahrnehmen und also den Glauben an ideales Menschenthum und so den Halt verlieren. Früher hielt man die Kinder streng fern von der Außenwelt und dem Gesellschafts- und Vergnügens-Verkehr der Erwachsenen unter einander, jetzt führt man sie frühzeitig mitten in dies gesellschaftliche Treiben und ertödtet so früh in ihrem Herzen die besseren Keime, welche die Schule in sie zu legen bemüht ist, nimmt ihnen früh den in sich selbst sicheren frohen Glauben an die Menschen, um sie eher zu Geschäftsmenschen zu erziehen. Abgesehen davon sind unsere Zeitungen mit ihren Schauder- und Scandalgeschichten, mit ihren oft frivolen und witzelnden Erzählungen ans dem Gerichtssaal geradezu Schuld mit an der Untergrabung echter Sittlichkeit. Man läßt Kinder diese Zeitungen ruhig lesen und nun höre man nur einmal, wenn die Schule ausgeht, sich diese halbwüchsigen Burschen und Mädchen von den Tagesneuigkeiten unterhalten. Geht nur einmal hinter ihnen her und hört zu, Schillersche Gedichte hört Ihr ganz gewiß nicht. Sowohl bei den Attentaten als bei den Geldbriefträgerrnub- morden ist es notorisch, daß durch Darstellungen der Zeitungen andere Individuen zur Wiederholung desselben Verbrechens sich haben verleiten lassen. Mir ist ein Fall erinnerlich, daß zwei Gymnasiasten ans einer Ferienreise die Wirthin eines Restaurants auf einer Bergspitze zu ermorden versuchten, um Geld zu erlangen, nachdem sie in einer Zeitung einen ähnlichen Fall ausführlich geschildert gelesen hatten. Fern sei es von mir hier die Censur der Zeitungen zu verlangen, fern sei es von mir etwa
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