562
Or. meä. Hermann Klencke.
auf Prügelstrafe, grausame Hinrichtung re. den Antrag zu stellen, ich stelle blos den Antrag, der sittlichen Cultur, der Pflege der Gesinnung mehr Aufmerksamkeit zuzuwenden, als immer blos der Verfeinerung des Verstandes. Und dies muß in der Kindheit geschehen, damit sich sichere sittliche Grundsätze mit den geheiligten Jdeeuassociationen der Kinder verbinden. Denn der Verstand kann wohl die Wolken des Vorurtheils durchdringen, in den Momenten seiner Kraft kann er Wohl sogar über seine Freiheit frohlocken, doch über Alles mächtig bleiben gewöhnlich die Begriffe der Kindheit, um in jeder schwachen Stunde, wenn die Spannkraft der Vernunft erschlafft, mit der Gewalt der alten Jdeeuassociationen wieder zu erscheinen und zu regieren. Wie wenige sind später fähig die Mängel ihrer Erziehung selbst zu corrigiren! Deswegen spreche ich ja gerade so ausführlich von diesen psychologischen Vorgängen, weil diese geistige Nachahmung, in der Kindheit das Mittel der Erziehung, leider auch im Mannesalter herrschend bleibt, im Mannesalter, wo namentlich bei Gebildeten die Selbsterziehnng die übermäßige Eindrucksfähigkeit und unwillkürliche Nachahmung hemmen sollte, ich meine nicht hemmen bis zu der halsstarrigen Oppositionslnst, die Absonderlichkeit mit Originalität verwechselt, sondern zu dem reifen Ueberschauen und ruhiger Selbstbestimmung.
Wir kennen ja auch aus unserer Geschichte Beispiele von solcher geistigen Ansteckung von Geistesepidemien. Ich erinnere nur daran, daß im 12. Jahrhundert, als ganz Europa von den Gesängen der Geißelbrüder ertönte, als die Hexenprocesse sich mit einer furchtbaren Geschwindigkeit vermehrten, als die Inquisitoren Europa durchschritten und laut erklärten, daß der Teufel an allen Seiten sein Wesen treibe, überall Verurteilungen wegen Zauberei zum Feuertode bewerkstelligten und das Volk von ansteckender Furcht ergriffen sich überredete, eine Gemeinschaft mit dem Satan zu haben und Alles satanische Einflüsse um sich sah, damals entstand auch der Veitstanz in Flandern und Deutschland. Tausende und aber Tausende versammelten sich in Kirchen und aus Plätzen unter sonderbaren Ausrufen und Geberden und verkündeten mit Schreckensgekreisch und Verrenkungen und Zuckungen der Glieder die Macht und den Triumph des Satans. In den Kirchsprengeln Köln und Trier, wo nachgrade die Hexerei am Meisten vorkam, wüthete dieser ansteckende Wahnsinn und Krampf mit besonderer Heftigkeit. Vollständig ungewöhnt an ein unabhängiges Denken, verwirrt durch die fanatischen Reden der Priester irrten die Geister der Menschen hin und her, durchzuckt durch streitende Gefühle unter dem Einflüsse des wildesten Schreckens. Keiner konnte der Bewegung entrinnen, die ganz Europa
mit Angst erfüllte. Es war eine Zeit religiöser Convulsion, religiösen Krampfes, der sich auch in Gliederkrämpfen kund gab und Alle ansteckte, die nicht ganz starken Geistes waren.
Wenn man aber jenes wunderbare Zeitalter der Kreuzzüge in's Auge saßt und sieht, wie selbst Schaaren von zarten Kindern ihrem Elternhause entlausen, um nach der Stadt, welche die Wiege und das Sinnbild des christlichen Strebens ist, nach Jerusalem zu pilgern und unterwegs zu Tausenden vor Hunger und Frost auf unwirthlichen Wegen nmkamen, zum Theil noch ehe sie das Meer zur Ueberfahrt erreichten, möchte man da nicht glauben, es bemächtige sich zu Zeiten der Menschen derselbe unaufhaltbare Drang und instinktive Zwang, der die Zugvögel im Herbst nach Süden treibt und die Insekten in die Flamme? oder es sei ein Rest von jenen zwangsartig wirkenden Gefühlen in dem Menschen als Erbstück zurückgeblieben? In unserem Jahrhundert im 70er Krieg hat man nur von Einzelfällen gehört, daß halbwüchsige Burschen ihren Eltern entliefen, um mit gegen den Erbfeind zu marschiren; von einem Kinder-Fran- zosenzuge ist Nichts verlautet. Man muß bedenken, wie damals zur Zeit der Kreuzzüge die religiöse Aufregung alle Interessen verschlang, alle Klassen und Alles beherrschte, sich alle Leidenschaften unterwarf und ihnen die ausschließliche Färbung verlieh; man muß den religiösen Terrorismus bedenken, der damals ganz Europa beherrschte, wie der revolutionäre vorigen Jahrhunderts Frankreich, man muß wissen, daß die Höllengeister damals die Hauptwahrheit der Religion waren und der Gegenstand beständigen Nachdenkens. Alle Literatur, alle Malerei, alle Beredsamkeit concentrirte sich ans das schreckliche Thema, und durch die Predigten von jeder Kanzel wurde der sinnverwirrende Schrecken genährt. Man erzählte den armen unterdrückten verdummten Menschen wie ein Heiliger die Hölle durchwandert und in dem düstern Schimmer der ewigen Flammen Millionen in jeder Art gräßlichen Leiden sich habe winden sehen, wie ihr Augapfel in unaussprechlicher Angst gerollt, ihre Glieder zerhauen und verstümmelt vor Schmerz gezuckt hätten. Gräßliche Wesen von schrecklichem Ansehen und phantastischen Formen schwebten rings umher, spotteten ihrer inmitten ihrer Qualen, warfen sie in Kessel kochenden Schwefels und ersannen neue schärfere und erkünsteltere Martern, ein unablässiges Kreischen der Angst bezeugte die Todesschmerzen da unten.
Wehe dem, wer diese Darstellungen nicht glaubte oder auf seine Vernunft sich verließ, er wurde als Ketzer verbrannt, ja jeder Zweifel war als Beeinflussung des Teufels mit dem Tode strafbar. Kein Genuß der Gegenwart, keine Zerstreuung lenkten den Verstand ab, vorgeblich die christliche Religion,