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(01/01/2019) 12
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Oie Erziehung einer neuen Generation.

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in der That der Pfaffenlug war der Brennpunkt, nm den sich die Einbildung drehte. Die Liebe zu dem allmächtigen Schöpfer (Brüder iiber'm Sternen­zelt muß ein guter Vater wohnen) war einer läh­menden Furcht gewichen, die alle Gemüther nieder­drückte. So wird man, glaube ich, den Wahnsinn, der alle ergriff und zu den Geißelbrüdern oder zu den Convulsionären oder zu den Zügen nach dem gelobten Lande trieb, begreifen. Die Angst, in die die armen Menschen gehetzt worden waren, jagte sie ruhelos umher und beraubte sie jeder vernünftigen lleberlegung, die Angst, die Alle ansteckende Angst.

Mit welcher Genugthunng kann unser Jahr­hundert Hinschauen auf jene finsteren Zeiten, welchen Dank schuldet es den erhabenen Zeugen der Wahr­heit, die sich allein mit ihrer gewaltigen Brust dem Strome des Wahns und der Lüge entgegen­stemmten und ihr Leben opferten, um uns zu be­freien. Aber herrschen bei uns aufgeklärten Söhnen des 19. Jahrhunderts nicht auch gewisse Geistes­epidemien? gewisse Seelenkrankheiten, welche die vernünftige Gestaltung des Lebens hindern? Werden bei uns keine Denker mehr verfolgt, welche gegen den blinden Autoritätsdusel ankämpfen, keine er­habenen Seelen mehr verlästert, welche den Heuch­lern und Intriganten die Larve vom Gesicht ziehen? zwar nicht gefoltert und verbrannt, aber aus­geschlossen von Würden und Aemtern und dem Hunger überantwortet? Warum füllen sich denn heute unsere Paläste von Irrenanstalten immer mehr, warum muß man jedes Jahr immer zubauen? Der Hexen- und Tenfelsspnk, die Höllenstrafen und die Furcht vor dem strafenden Gott jagen nicht mehr die Leute in Wahnsinn, aber die Gier nach Geld und nach Genuß. Vergaß man damals zu sehr die Erde und ihre Freuden, so vergißt man heute zu sehr, daß in uns etwas Unendliches lebt, das über bloßen sinnlichen Genuß erhaben ist, so ver­gißt man heute das wahre Himmelreich: Ver­

geistigung des Lebens in Vernunft und Liebe. Hat sich nicht nach der Befreiung der Geister von der Furcht, im Jenseits bestraft zu werden, eine wilde Genußsucht eingestellt, die rücksichtslos alle Menschen nm sich nur als Mittel zur Befriedigung dieser Gierde ansieht und gewissenlos Alles nieder­tritt, was sich ihr entgegenstellt, ist nicht ein all­gemeiner Größenwahnsinn eingerissen, der noch das letzte Band, das die Menschen an einander fesselte, zerrissen hat und nur noch vom Kampfe um's Da­sein spricht oder vom Treten oder Getretenwerden? Die Befreiung von religiösen Vornrtheilen und Aberglauben hat zunächst mit erhöhter Einsicht nicht auch erhöhte Sittlichkeit gebracht, sondern er- erhöhtes Genußleben. Machen sich nicht vielleicht heute die Menschen die schöne frühlingsduftende Erde selbst zu der Hölle, von der jener Heilige

im Mittelalter träumte? Bedeutet jener schauderhafte Mythus von der Hölle und ihren Qualen etwas Anderes, als das, was Schillerdie Angst des Ir­dischen" nennt, die Qualen des unbefriedigten Ehr­geizes, den Stachel der Wollust, die rastlose Hab­gier, die öde Wüste der Selbstsucht, die nur sich kennt und das Leiden Anderer gleichgültig oder mit Freude ansieht, um zuletzt bei dem Nichts an­zukommen? Ist das nicht die wahre Hölle, nur daß die Menschen ihren Wahn und Selbstbetrug nicht einsehen, daß die Hölle in ihrer Brust ist, daß sie sie sich selbst bereiten. Das religiöse Gefühl aber, das Bewußtsein, einem Reiche anzugehören, das hinter und über der Sinnenwelt liegt, das Ge­fühl abhängig zu sein von einer unbegreiflichen Macht, als deren Theil wir uns selbst fühlen, das hat, statt mit der zunehmenden Aufklärung in eine hohe geläuterte Auffassung von Christi Lehren aus­zumünden, sich einer trüben Mystik und erneuten Gespensterlehre ergeben, hat sich in den sogenannten Spiritismus geflüchtet. Der einseitige Materialismus hat seinen excentrischen Gegensatz hervorgerufen gerade bei den Gebildeten. Der Drang des Menschen über die Sinnenwelt hinaus, von dem Goethe sagt: Es ist dem Menschen eingeboren, daß sein Ge­fühl hinauf und vorwärts dringt re. hat sich krankhaft verzerrt. Man glaubt direct mit Geistern Verkehren zu können und treibt kindisches Spiel, um die Existenz und ihre Gegenwart zu beweisen. Leider benutzt man dabei gewisse psychologische Räthsel und eigenthümliche Nervenerscheinungen zu diesem Humbug, Nervenerscheinungen, die zum Theil sich schon natürlich erklären lassen, zum andern Theil sich in Zukunft werden erklären lassen bei Fortschritten wissenschaftlicher Physiologie und Psy­chologie. Denn das ist unumstößliche Gewißheit: Alles was sinnenfällig ist, was wir wahrnehmen durch die Sinne, muß sich auch nach dem Can- salitätsgesetze erklären lassen, sich einstigen lassen in die natürliche Ordnung der Dinge. Daß jenseits dieser natürlichen Ordnung der Dinge noch ein Reich des Uebersinnlichen liegt, dies ahnen wir wohl und selbst der kühnste Forscher muß hied still stehen und demüthig sein Haupt senken unr sein Herz erheben in frommen: Schauder aber dieses Geisterreich mitten in der natürlichen Ordnung der Dinge zu suchen und zu glauben, daß es diese durchdringt und nun Geister klopfen und klingeln rc., das ist derselbe Wahnsinn wie im Mittelalter Hexerei und Convnlsionen re. Gerade aber der Unsinn, der mit den Tiefen des menschlichen Geistes kokettirt, der im Grunde genommen einem Be­dürfnisse des menschlichen Herzens dem übersinn­lichen mystischen Drange entgegenkommt, gerade der findet leicht Nachahmung und wird bald zur Modekrankheit. Was nützen einer großen Anzahl

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