564
Or. mecl. Hermann Ulencke. Die Erziehung einer neuen Generation.
von Menschen jene Geistesmänner, welche ihr Leben nnsetzten, uns vom crassen Aberglauben und thörichten Einbildungen zu befreien. Von diesen gilt: Sie haben Ohren zu hören, aber sie hören nicht, Augen zu sehen, aber sie sehen nicht. Dies kommt aber namentlich daher, daß unsere Erziehung zwischen materialistischen modernen Lehren und mittelalterlicher Scholastik hin- und herschwankt und keine klaren festen Begriffe, an die sich auch der Erwachsene halten kann, in das kindliche Bewußtsein legt, dies kommt daher, daß die Sittenlehre der Schule in offenbarem Widerspruche mit den allgemeinen Regeln und Gesetzen des gesellschaftlichen Verkehrs steht. Noch immer sitzt wie in der Fabel des Cebes das geheimnißvolle Weib an der Pforte des Lebens und reicht Allen, welche eintreten, einen Trunk, der durch jede Ader ein Gift verbreitet, das ihnen für ewig anhaftet. Sehr wenig haben den Muth und die Ausdauer, um den Seelenkamps aufzunehmen um innere Befreiung. Die große Mehrzahl untersucht entweder niemals die ihr überkommenen Meinungen oder prüft sie so vollständig unter dem vorherrschenden Einflüsse der Erziehungsvorurtheile, daß, welcher Art auch die angelernten Lehren sein mögen, sie den Schluß ziehen, sie seien ohne Frage wahr. Der andere Theil ist von vornherein so früh durch den Zwiespalt zwischen Schule und Leben zerrissen, daß er von vornherein blasirt und ohne bessere Ueberzeugung in's Leben tritt. Von den Wenigen, die einen Lichtblick von höheren Dingen erlangt haben, kann ein großer Theil den Kampf nicht aushalten, dem die Fähigkeit der alten Jdeenver- bindungen und die Vortheile für gehorsame, wenn auch heuchelnde Jünger eine besondere Bitterkeit verleiht, sie unterdrücken die Stimme der Vernunft, sie erkaufen den Frieden ans Kosten der Wahrheit. Es liegt auf der eineu Seite ein solcher Reiz iu der Ruhe des Vorurtheils, wenn keine mißhellige Stimme die Harmonie des Glaubens stört, es erregt einen durchdringenden Schmerz, wenn liebevoll gehegte Träume gescheucht und die alten Bekenntnisse aufgegeben werden, daß es nicht überraschen darf, wenn die Menschen die Augen dem unvoll
kommenen Licht verschließen, andererseits liegen für die andere Partei so schöne Vortheile, Aemter und Würden und Anerkennung für den, der theoretisch der Neuzeit angehört und sogar mit der bloßen Verfeinerung des Verstandes schwere Jrrthümer des Herzens groß erzieht, den ethischen Materialismus, äußerlich sich aber an die Normen hält, die der Staat von einem gehorsamen Diener verlangt und einen Glauben selbst heuchelt Sonntags und Festtags, den er an den Werkeltagen aufzulösen eifrig bemüht ist, daß wir uns nicht wundern, wenn gewisse gelehrte Herren sich bei dieser doppelten Buchführung beruhigen. Wir Nüssen wohl, welch schweren Kampf wir aufnehmen, wenn wir sowohl den blinden Anhängern des alten Systems, als den übereifrigen Aufklärern, die nur alles Heil von Verbesserung des Verstandes erwarten, entgegen- treten. Von jenen brauchen wir weiter nicht zu sprechen, aber diesen, die heute herrschen, den Aufklärern, die da meinen, wenn man Vornrtheile zerstöre, springe von selbst die Vernunft und das Glück des Lebens heraus, den Aufklärern, die bei ihrer verdienstvollen Verfolgung des Feindes der mittelalterlichen Autorität über's Ziel hinansge- schossen sind und ihre Zelte verloren haben, denen möchten wir heute znrufen mit dem Apostel: Was nützt es Dir, wenn Du die ganze Welt gewönnest und nähmest Schaden an Deiner Seele? Kann ein Jrrthum des Herzens, eine falsche Lebensauffassung nicht noch mehr Unheil anrichten, als ein Vorurtheil des Verstandes. Und dies thnt heute das falsche Glücksideal, das ein Kind der materialistischen Lehren ist. Mag der Materialismus als Forschungsprincip uoch so Gewaltiges geleistet haben, auf ethisches Gebiet übertragen — und das kann nach der Natur des Menschen nie fehlen, daß er übertragen wird — hat er das Mark unseres Volkes vergiftet. Eine bessere Zukunft kann man nur vou einer besseren Erziehung, einer Erziehung zur Vernunft, einer besseren Generation erwarten. *)
*) vr. Hermann Klencke's interessante Abhandlungen über „Die Erziehung einer neuen Generation" werden im nächsten Jahrgange fortgesetzt. D. Red.