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Der Talmud : sein Wesen, seine Bedeutung und seine Geschichte / dargestellt von Dr. S. Bernfeld
Entstehung
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sich die mündliche Lehre ausschliesslich auf pa­lästinensischem Boden. Wohl sind manche be­deutende Gesetzesforscher aus andern Ländern hervorgegangen, unter ihnen Hillel der Babylonier, der die grösste Berühmtheit erlangt hat; aber alle haben sie sich erst in Palästina in der Kenntniss der mündlichen Lehre vervollkommnet und sind da zu grosser Bedeutung gelangt. In Baby­lonien befand sich seit der Zerstörung des ersten Tempels der Grundstock der Judenheit; dort kamen die Juden in der Folge zu grossem Wohlstand und auch zu einer günstigen politischen Stellung. Sie erfreuten sich einer weitgehenden Autonomie, jedenfalls der ausgedehntesten Religonsfreiheit. Hingegen gestaltete sich die Lage der Juden in Palästina seit dem Beginn der römischen Herr­schaft immer trauriger. In Babylonien war somit der Boden für die Fortentwickelung des Juden­thums sehr günstig. Trotzdem konnte die baby­lonische Judenheit Jahrhunderte hindurch zu keiner geistigen Selbständigkeit gelangen, und ein be­rühmter Lehrer in Palästina (R. Jochanan) meinte einst treffend:Die babylonische Judenheit hat Lern-, aber keine Lehrfähigkeit.

Zur Zeit, als R. Jochanan (um die Mitte des dritten nachchristlichen Jahrhunderts) diesen Aus­spruch mit der unverkennbaren Spitze gegen die babylonischen Lehrhäuser that, stand aber bereits das Studium der mündlichen Lehre in Babylonien in hoher Blüthe und drohte jenes in Palästina in Schatten zu stellen. Die geschichtlichen Anfänge des Talmudstudiums in Babylonien datiren aus jenen Tagen. Zu den Schülern des Patriarchen R. Juda I. gehörten auch viele begabte Jünglinge und Männer aus Babylonien, von welchen einige