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Der Talmud : sein Wesen, seine Bedeutung und seine Geschichte / dargestellt von Dr. S. Bernfeld
Entstehung
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I.

Die mündliche Lehre.

Das bekannte Wort: habent sua fata libelli, lässt sich vielleicht auf kein Buch so passend an­wenden, wie auf den Talmud. Dieses Buch oder vielmehr Sammelwerk hat sein Schicksal und auch seine Geschichte. Von der einen Seite als ein wichtiger Bestandteil des religiösen Schrifttums behandelt, mit Liebe und Eifer durchforscht, er­klärt und erweitert, von der andern Seite ange­feindet und verleumdet, hat sich der Talmud in der Weltlitteratur keinen ihm gebührenden Platz erobern können. Die Juden haben Jahrhunderte hindurch die talmudische Litteratur als die Quint­essenz aller menschlichen Weisheit verehrt, von seiner weitgehenden Bedeutung für die religiöse Entwickelung in der Judenheit schon gar nicht zu reden. Wer den Talmud und das mit ihm zusammenhängende Schriftthum erfasst hat, der habe nach der Auffassung der Juden im Mittel- alter die Höhe der menschlichen Erkenntniss er­klommen; im Talmud wären alle Wissenschaften enthalten. Diese Anschauung war freilich nicht immer die alleinherrschende in der Judenheit; der grosse Maimonides zum Beispiel spricht zu­weilen sehr despectierlich von den Männern, die nichts weiter als den Talmud kennen. Aber nach

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