Heft 
(1897) 06
Seite
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Die Affaire Dreyfus in graphologischem Lichte.

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jener luiesse ä'e8prit, die den gebildeten Franzosen so häufig ! Vorderem! gethan, wenn dieses von seiner Hand her­charakterisiert, und die ihn zum Diplomaten pur exeellenea j rührte.

befähigt, die gescheit zu schweigen und zu verschweigen ^ Es wäre noch mancherlei zu sagen über die Verschieden­weis; und andre mit ebenso viel Scharfblick durchschaut, wie j heit einzelner Buchstabenformen, der Schriftverbindung im

das eigne Innere verschleiert (unleserliche Wortendungen bei wellenförmiger Linienbasis); aber dabei, ist er charakterfest, mutig, energisch: fest faßt er ein Zielius Auge, und zu­versichtlich strebt er ihm entgegen; widerstandsfähig tritt

Nr.

Handschrift vom Jahre 1890. vor der Anklage.

er äußeren Einflüssen und Versuchungen entgegen er ist ein harmonischer, sich stets gleichbleibender und daher zuverlässiger Charakter (klare, energische Schrift mit keulen­artig verdickten Endungen namentlich in den Querstrichen, aufwärtsstrebende Liuienrichtuug und wenig schiefe, meist gleichmäßige Schriftlage und -Höhe. (Siehe die Bordereau- schrift, speziell die Wortele äeriiier äomimeutQ)

2. Bei Schriftfülschungen, anonymen Zuschriften und hieraus bezüglichen Schriftvergleichungen geht der Grapho­loge stets von dem Grundsatz aus: die kleinen Zeichen der Schrift sind die verräterischen, weil sie vom Falscher am wenigsten beachtet werden. Diese kleinen Zeichen sind An- und Endstriche, Punkte, Accente, Querstriche, Raumverteilung, Ränder und so weiter. In diesen Punkten sind in den beiden Schriftproben, um die es sich hier handelt, merk­bare Unterschiede vorhanden: Anstriche sind fast nur iu Nr. 2 vorhanden, Nr. 1 umgeht sie zumeist; mit den End­strichen verhält es sich umgekehrt. Die Punkte sind hier (Nr. 1) nieder, ausfallend schwer, oft der Ausgangspunkt für den nachfolgenden Buchstaben, dort leicht, oft fliegend gesetzt, niemals verbunden mit dem nachfolgenden Buch­staben. Tie Accente macht Dreyfus korrekt und am rechten Ort; im Vorderem: sind sie schlechtgeformte Punkte. Die Querstriche sind bei Dreyfus stets lang, ansteigend, keulenartig verdickt, wo sie in der Höhe liegen; am Fuße des Buchstabens bilden sie eine verknotete Schleife. Im Bordereau zeigen sie alle möglichen Formen und Lagen; hie und da sind sie mit einem kleinen Häkchen ver­sehen (Eigensinn); oft bilden sie einen leisen Bogen (Willensunfreiheit), und am Fuße des Buchstabens sind sie nie fchleifenartig verknotet (Beharrlich­keit, .Konzentration, Ausdauer), sondern nur als Strich aus den Buchstaben herausgezogen.

Dreyfus verteilt den Raum in geschmackvoller, geordneter Weise, und seine Ränder sind schön gleichmäßig gehalten , während dies alles im Bordereau sehr unordentlich und vernachlässigt ist. Dreyfus ist offenbar ästhetisch gebildeter und auch in äußerlichen Dingen exakter und pünktlicher als der Verfasser des Vordereaus.

Dies allein ist ein gewichtiges Moment, denn eine so ausgesprochene Vorliebe für geordnetes Wesen und Genauigkeit, wie sie Dreyfus besitzt, muß sich überall zeigen, und sie hätte es auch im

lieber Land und Meer. Jll. OM-Hefte. XIV. 6.

Wortinnern und so weiter, das Gesagte muß aber genügen, um den Leser zu eignen Vergleichen anzuregeu.

Nur noch ein Wort über die Veränderung in der Schrift des Dreyfus vom Jahre 1890 (also vor Anklage und Verurteilung) bis zum Jahre 1895 (also nach derselben). Gliche Nr. 3 reproduziert einen Teil eines Briefes, den Dreyfus von der Teufelsinsel aus au seine Frau geschrieben. Die Veränderung muß jedem, auch dem graphologisch ganz Ungebildeten auffallen. Auch dentoten Buchstaben" sieht man es an, wie viel Leid in dem Zeitraum 1890 bis 1895 über den Unglücklichen hingegangen ist. Wie hoffnungsfrüh und sicher blickte er einst in die Zukunft! Wenn auch momentan Verstimmungen, Unlust zur Arbeit, Müdigkeit nicht fehlten, so kam er doch rasch und leicht darüber hin­weg, und mit dem ersten Schritt war auch schon die Haupt­schwierigkeit überwunden, das einmal Vorgenommene führte er rasch und gut zu Ende; das einmal gesteckte Ziel wußte er zu erreichen, denn die Linie senkte sich zwar wohl hie und da an ihrem Anfang, stieg aber immer wieder gegen das Ende, und selbst die mehrsilbigen Worte zeigten oft diese Erscheinung. Jetzt ist das anders -- die Linie senkt sich stetig, gegen ihr Ende hin mehr als am Anfang, wo sie sich noch manchmal zu erheben sucht; ein beinahe plastisches Spiegelbild des Ringens zwischen Furcht und Hoffnung der gequälten Seele, die sich immer noch nicht resigniert ergeben kann und will, dieses ewige, wellenförmige Aus- und-ab! Ganz hoffnungslos ist der Unglückliche noch nicht, aber die Energie ist gebrochen und die Widerstandskraft dahin; aus der Schrift sind Keulenendung und scharfe Winkel verschwunden. Ein halb eigensinniges Sich-fest­klammern an eine Idee oder Hoffnung liegt in dein kleinen Häkchen des Querstriches, aber es ist schwach entwickelt, und Zuversichtlichkeit und Freudigkeit fehlen dabei, denn die Schriftlinie ist gleichzeitig abfallend.

Der ganze Duktus von Nr. 3 zeigt überhaupt Ge­brochenheit, seelische Zerschlagenheit im Gegensatz zu der Probe Nr. 2. Hierfür sprechen die nach rechts gewölbten Langbuchstaben (li in vappvoelisut, 1 in ligure, 1 und so weiter), die vorwaltende Schwere und Unsicherheit in Kombination mit der sinkenden Schriftlinie.

Frei und sicher bewegt sich der Schreiber von Nr. 2

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Nr. 2. Teil eines Briefes vom Jahre 1895, auf der Teufelsinsel vom Verurteilten an die Gattin geschrieben.

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