94
Hieb er Land
Stadt- und Staatsangelegenheiten. Sebaldus von Halveren hat nicht bedacht, daß diese unruhigen Köpfe sich vielleicht eines Tages nicht mehr damit zufrieden geben könnten, nur diejenigen Hexen brennen zu sehen, die ihnen als solche bezeichnet wurden, sondern daß sie anfangen könnten, selbst nach Hexen und Zauberern Umschau zu halten, und sie gerade in den Reihen derer zu finden, von denen des Herrn Sebaldus von Halveren bedenkliches Mittel Volkswut und Mißtrauen ablenken sollte, in den Reihen der Patrizier und städtischen Würdenträger. Wie nun gerade die beste, hochgeartetste und vorwurfsfreieste der Kölner Patrizierjungfrauen, die Tochter des bei dem Volksanfstaude umgekommenen Bürgermeisters, in den Verdacht gerät, eine Hexe zu sein, weil sie das Zeichen an sich trägt, das ein gelehrter geistlicher Herr als das untrügliche Kennzeichen einer Buhldirne des Teufels entdeckt und wissenschaftlich bewiesen hat — ein Muttermal unter der Schulter —, wie sie „vom heißen Stein", das heißt, aus der Gefahr, auf dein Scheiterhaufen verbrannt zu werden, durch den Mann gerettet wird, dem sie trotz seiner niedrigen Herkunft ihr Herz geschenkt hat, das erzählt Ernst Muelleubach in seinem Roman. Er erzählt es spannend, weil er die Leser schnell für die Menschen zu interessieren weiß, die er schildert, nicht nur für die beiden Hauptpersonen, sondern auch für die Mitspieler in diesem Drama einer vergangenen Zeit. Und dieses Interesse au seinen Figuren erreicht er durch die Lebenswahrheit, die er ihnen einflößt, wie er den Leser für die Zeit erwärmt, von der er erzählt, indem er den Leser diese Zeit miterlebeu läßt.
„Kein Gitter hindert Cupido", nennt Beru- hardine Schulze-Smidt ihren neuesten Roman (Dresden, Verlag von Karl Reißuer). Das Gitter, das „ihn" und „sie" voneinander trennt, ist so hoch und so fest geschmiedet, daß sie nicht zu einander gelangeil können, trotzdem sie Nachbarskiuder sind. Aber sie lieben sich doch, wenn sie sich auch, jedes in seiner Art, sagen, daß sie sich niemals angehören können. So bleibt sie ledig, er fällt als französischer Soldat im deutsch-französischen Kriege. Cupido ist zugleich der Sieger und der Besiegte — das Gitter hindert ihn nicht, seinen Pfeil treffsicher an das Ziel zu senden; aber die Liebe, die er entzündet, ist doch nur stark genug, um zu entsagen, und nicht auch stark genug, das Gitter fortzuräumen. Mit ihrer tiefen Kenntnis der Seele hat Bernhardiue Schulze-Smidt einen sehr eigenartigen Mädchencharakter gezeichnet, ein Mädchen, das nur da fähig ist, sich ganz hinzugeben, wo nicht nur seine Liebe, sondern auch sein Stolz und sein Verstand volles Genüge finden, und das seine weicheren Empfindungen und seine kühleren Erwägungen ganz getrennt nebeneinander gehen läßt und ihnen die gleiche Berechtigung zuerkennt. Sie kann weder ihrem Herzen wehren, noch ihrem Verstände unrecht geben und findet in diesem Konflikt den Ausweg, indem sie zugleich entsagt und treu bleibt; das heißt, indem sie auf den Geliebten verzichtet, mit dem sie nicht glücklich werden zu können überzeugt ist, verzichtet sie auf das Glück der Liebe überhaupt. Leider ist das geistvolle, feine und liebenswürdige Werk mit Illustrationen ausgestattet, die mit Ausnahme einiger Vignetten ganz nichtssagend, uncharakteristisch und sehr wenig künstlerisch ausgeführt sind. Ich ziehe die nichtillustrierten Romane im allgemeinen auch den gutillustrierteu vor, — ein schlecht- illustrierter aber erscheint mir beinahe wie ein Attentat auf den Autor.
Ein starkes Talent und eine gesunde Lebensauffassung zeigen sich vereint in dem Roman „Rheinlaudstöchter" von C. Viebig (Berlin >V., F. Fontane L Comp.). Im Mittelpunkt der Handlung steht ein junges Mädchen, Neida Dallmar, die Tochter eines großgearteten Vaters und einer in ihrer Art gutherzigen, aber kleinlichen Mutter, die ihr
und Weer.
eigenartiger Charakter in Konflikte mit dem gesellschaftlich Konventionellen bringt. Nelda Dallmar sieht schärfer als andre junge Mädchen in den sogenannten geselligen Vergnügungen das Mittel zum Zweck, die Jagd nach der Haube, und die harmlosen Freuden des Verkehrs sind ihr versagt, weil es sie anwidert, diese Jagd mitzumachen. Als sie aber dem Manu begegnet, der ihr Liebe einflößt, geht sie auch weiter, als andre junge Mädchen von weniger starkem Temperament gehen würden. Da der unter einem schweren moralischen Druck leidende Geliebte sich die Meinung zurechtgelegt hat, er dürfe ein Mädchen nicht an sein- Schicksal fesseln, sie aber, in der Voraussetzung, daß er ihre Liebe erwidere, es für die Pflicht ihrer Liebe halt, ihm sein unverschuldetes Schicksal tragen zu Helsen, hängt sie sich an ihn init mehr Energie, als mit der von einem jungen Mädchen der guten Gesellschaft geforderten Zurückhaltung vereinbar ist. Ter Geliebte aber erweist sich nicht nur als ein gedrückter, sondern auch als ein schwacher Charakter; statt sich die Stärkere als Stütze willig gefallen zu lassen, flieht er vor ihr, und er deckt seine Flucht mit der brutalen Unwahrheit, daß er sie niemals geliebt habe. Ein wahrer Freund, übrigens eine der prächtigsten und lebenswahrsten Osfiziersgestalteu, die mir jemals in deutschen Romanen begegnet sind, rettet sie vor dem Aenßersteu, vor dem Selbstmord. In Jahren eines unausgesetzten energischen Kampfes gegen sich selbst und gegen die Versuchungen der Welt ringt sie sich endlich zu der innerlichen Freiheit empor, die über allem Konventionellen steht. Dann begegnet sie dem Geliebten wieder, der inzwischen auch die Fesseln von sich nbgestreift hat, die ihn klein und mutlos machten, und beiden eröffnet sich nach allen Kämpfen die Aussicht auf eine gemeinsame glückliche Zukunft. Die Gestalten des Romans sind voll wirklichen Lebens; auch kam:- man dem Verfasser nicht eigentlich nachsagen, daß er in der Schilderung der Enge und des Vorurteils philiströs- gesellschaftlicher Anschauungen zu viel gethan habe, trotzdem der Abgrund zwischen einer starken, nach Freiheit ringenden Individualität und der Dutzendauffassuug stark betont ist. Uebertriebeu scheint mir nur die Schilderung einer Fidelitas im Offizierkasino; nach meiner Erfahrung spielt da selbst in Stundet: nicht allgemeiner Nüchternheit doch die gesellschaftliche Form eine so starke Dämpferrolle, daß ein so starkes Sichgehenlassen, wie es hier im Gefolge des Weines stattfindet, beinahe ausgeschlossen erscheint.
Die sanfteren Seiten ihrer umfassendeil Begabung zeigt Bianca Bobertag in ihrem Roman „Sommermärchen" (Verlag von Velhagen <L Klassing, Bielefeld). Ein wenig unwahrscheinlich wirkt die Voraussetzung, auf der sich die Erzählung ausbaut: Ein junges, sehr wohlhabendes Mädchen nimmt in der Befürchtung, sie könne ihres Vermögens wegen von einem Manne geheiratet werden, eine Hilfsstellung im Hause eines Arztes au und spielt die Rolle eines armen Mädchens, das darauf angewiesen ist, sich sein Brot zu verdienen. Abgesehen davon, daß solche Stellungen im allgemeinen doch mehr Entsagung nach vielen Richtungen hin verlangen, als freier Wille aus sich nehmen mag, sind solche Verkleiduugsrollen auch heutzutage ziemlich schwer durchzuführen. Jedenfalls ist der Doktor Konrad Ebert im Recht, wenn er Küthe Weipersdorfs Taktik, sich für ein armes Mädchen auszngebeu, weil sie lim ihrer selbst und nicht uni ihres Vermögens willen geheiratet werden will, für ziemlich thöricht hält und sich deshalb mit ihr in einem geistvollen Disput herumzankt. Daß es noch klüger gewesen wäre, wenn er all ihre Eiu- würfe einfach mit Küssen erstickt hätte, wird ihm freilich erst klar, als e-5 zu spät dazu ist, — als er den: Aerger über sie und der Liebe zu ihr durch die Flucht vor ihr entgehen zu können meinte. Aber Dummheiten lohnen sich manchmal, und in diesem Falle ganz gewiß. Denn während