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Neues vom
der Doktor sich in die schlesischen Berge flüchtet und dort sich zu beruhigen und zu vergessen trachtet, erlebt er, und Der Leser mit ihm, eine der entzückendsten Idyllen, die ohne die vorausgegangeue Thorheit ganz undenkbar wäre. Daß er glaubt, aus dem Traum Wirklichkeit machen, ein schlesisches Dorfmüdel mit aller natürlichen Anmut, Begabung und Lieblichkeit in seine städtische Umgebung versetzen und über dem Zauber dieser Feldblume die Rose mit den kleinen Dornen vergessen zu können, vor der er geflohen ist, das ist auch wieder eine Thorheit, aber eine menschliche, psychologisch sehr fein motivierte, und keineswegs eine Unwnhr- scheinlichkeit. Bianca Bobertag hat diese Episode in einen solchen Duft von Sommersonne und Sommerstimmung gehüllt, daß ich nur ein Buch kenne, welches das gleiche Thema in gleich dichterischer Anmut behandelt, Wilhelm Jensens „Braune Erica". Der große Unterschied zwischen beiden ist allerdings der, daß Jensen die Landschaft, Bianca Bobertag die Menschen stärker betont. Lyrischer als in ihren meisten Erzählungen ist Bianca Bobertag im „Sommer- märchen", doch von der gleichen Kraft der Charakteristik, die ihr sonst eigen ist.
Eine Reihe illustrierter Novellenbände, von denen gerühmt werden muß, daß die Illustrationen sich auf künstlerischer Höhe halten, erschienen im Berlage von Adolf Bonz L Comp., Stuttgart. Unter diesen Bänden ist Hermine Villinger mit einer Sammlung Novellen „Aus dem Badener Land" vertreten. Die Galerie von prächtigen Charakterköpfen, die Hermine Villinger darin gezeichnet hat, wiederzugeben, hat der illustrierende Künstler zwar nicht erst versucht, aber er hat doch eine Reihe anmutiger Skizzen eingestreut, aus denen die Stimmung des Ganzen spricht. Hermine Villinger ist ein großer Optimist; unter allen Leuten, die gegenwärtig in Deutschland dichten, ist sie, glaube ich, der größte. Sie ist's deshalb, weil ihr bei aller Gemütstiese niemals der Humor ausgeht und sie bei allen Menschen die freundliche, die versöhnende Seite schnell herausfindet. Und ein solches freundliches Stellchen haben doch die meisten, wenn man nur Hermine Villingers Augen hätte, um es gleich zu entdecken. Da ist ein altes Spittelweiblein, das in den Häusern herumklatscht, sich an fremder Leute Kirschwasser übernimmt, nach Hause torkelt und unterwegs vom Schlag gerührt wird. Man wird ihr nicht viel Gutes nachgesagt haben. Zum Glück hat Hermine Villinger sie gekannt und zeigt uns, was in dem alten, am Wege verendeten Weiblein eigentlich steckte: Eine Dichterin, eine wirkliche Dichterin. Nicht einmal ein verkommenes dichtendes Genie, sondern ein wirkliches großes Talent, das nur die Ungunst der Verhältnisse nicht hat zur Entwicklung kommen lassen. Eine Dichterin „ums tägliche Brot" nennt sie Hermine Villinger. Aber darin liegt kein Vorwurf für Mutter Lene. Denn sie macht aus dem Dichten erst einen Berus, als ihre Kräfte zu verständigerer Arbeit nicht mehr taugen. Und daß sie dabei aus Abwege gerät, ist auch nicht strafwürdiger als die Abwege, auf die alle Dichter geraten, die ums Brot dichten. Der kranken und geizigen Vordereckerbäuerin dichtet sie jeden Sonntag eine Predigt ums Mittagessen, die sich natürlich immer gegen den Geiz richtet, trotzdem der Herr Pfarrer vorher auch manchmal wider andre Laster zu Felde gezogen ist, und der kranken Ernstin', die von Schauergeschichten ihr Leben fristet, dichtet sie danach um einen Kirschwasser etwas Gruseliges. Sie macht's nicht anders wie viele andre
Berufsdichter auch, — sie giebt ihrem Publikum, was das Publikum verlangt. Aber in einem Wesentlichen unterscheidet sie sich von andern Dichtern, denen das Dichten Geschäft geworden ist. Als sie ihre Phantasie zu Tod gehetzt hat, um das Gruselbedürfnis der Ernstin' zu stillen, und ihr gar nichts mehr einfallen null, da strömt es ihr noch einmal wie ein echtes und rechtes Gedicht ans dem
N sich erlisch.
Herzen herauf, und die Achtzigjährige erzählt der Ernstin', die freilich kein Verständnis dafür hat und darüber einschläft, die Geschichte ihrer ersten Liebe: „Im Sommer — im Sommer war's — ein Sonntag grad wie heut. — Mutter/ Hab' ich gesagt, sich geh' noch ein wenig in die Wiesen, bevor's nachtet, ich Hab' mich die ganze Woch' auf den Sonntag gefreut. — ,Freilich / hat sie gesagt, -geh, so lang du magst, mußt so die ganze Woch' sitzen und sticheln, armer Tropf, dem ich nix mehr sein kann, dein ich nur noch zur Last bin/ — ,Oho,' Hab' ich gesagt, ,das ist doch ganz in der Ordnung, zuerst hast du für mich geschasst, und jetzt schaff' ich für dich? — Am Steg, über dem Bach, kommt einer her und laßt mich nit vorbei! Erspielt auf einer Ziehharmonika ein Stückle auf und steht und lacht, und ich lach' auch. — ,Hei, Maideli/ sagt er, .was bist so jung? — ,Ha jo/ sag' ich, -sechzehn gerad.' — .Und ich zwanzig/ sagt er, .komm, setz dich ein wenig zu mir ins Gras, ich spiel' dir gern ein Stückle auf, wenn du magst/ — Nun halt, da sitzen wir. ,Wo bist daheim?' frag' ich. — -Ueberall und nirgends, ich zieh' so 'rum und spiel' zum Tanzen auf/ -- -Hast keine Eltern/ frag' ich, -keine Mutter mehr? — .Ja/ sagt er, siie flicken Schirm', aber sie sind mir zu grob, da bin ich davongelaufen/ — ,EH, du schlechter Bub'/ verschreck' ich mich, sich ließ mein Mutterte nit allein/ — Drauf nach einer Weil' fragt er: -Bist arm?' — -Ja/ sag' ich, -eine Näherin bin ich, 's muß halt langen/ — ,So ist's allemal/ meint er, -die Nettsten haben nie nix, aber wenn dir's recht wär', ich nähm' dich gleich mit auf die Reis', 's geht immer lustig -zu, und manchmal Hab' ich beide Säck' voll Geld — es wär' so schön mit'nander, meinst nit auch?' — .Ja/ sag' ich, -freilich wohl, aber da kommt's doch nit drauf an. Ich muß bei meiner Mutter bleiben; sie hat's auf der Brust und hustet Tag und Nacht.' — -Und die Lieb' gilt dir nix?' fragt er. Da muß ich weinen, ich weiß uit warum: -Die Lieb' ist viel zu kostspielig für mich; da ist der Schneider, der hat zu meiner Mutter gesagt, er nimmt sie auch dazu. Du bist freilich schöner, aber die armen Leut' müssen halt auf die Nützlichkeit schauen.' — So Hab' ich gesagt, und er hat mit der Achsel gezuckt und angefangen, ein Stückle zu spielen. Schönres Hab' ich nie nix gehört. Noch eins — bitt' ich und — noch eins, noch eins — so geht's fort. — -Jetzt kann ich keins inehr/ hat er über einmal gesagt, .jetzt, Maideli, jetzt kommt der Lohn.' — Ich Hab' mich nit gewehrt — ein Schmützle hin, ein Schmützle her — genau so viele, als er Stückle gespielt hat — und dann noch eins umsonst zum Abschied. Drauf haben wir uns eineil Strauß geschenkt — vom Bach weg, die Vergißmeinnicht — er hat ihn an den Hut gesteckt — so ist er 'gangen —" Nimmt's den Leser wunder, daß Hermine Villinger den Tod am Wege, den die Mutter Lene findet, nachdem sie der über ihrer Geschichte eingeschlafenen Ernstin' den Kirschwasser ausgetrunken hat, zu einem sanften Hinüberschlummern zwischen blühenden Vergißmeinnicht verklärt? — Diese Geschichte „Ums tägliche Brot" ist mir die liebste unter den Erzählungen „Aus dem Badener Land"; daß sie auch die beste oder auch nur die wirksamste wäre, soll damit nicht gesagt sein, denn der Band bietet eine Sammlung von Kabinettstücken.
Die drei Geschichten, die Heinrich Steinhaufen unter dem Titel „Entsagen und Finden" in der illustrierten Novellenausgabe desselben Verlages zusammengestellt hat, sind vielleicht geistreicher, aber sicher viel weniger ursprünglich als die Erzählungen Hermine Villingers. Ich gebe von den drei Geschichten der ersten, „Schwarzbärbels Bräuterei", den Vorzug. In der zweiten, „Magister Cölestin", scheint mir Entsagen und Finden zu sehr durch eine Reihe von Zufällen oder Fügungen verknüpft zu sein, wie sie dem Novellisteil leicht zur Verfügung stehen,