Heft 
(1897) 07
Seite
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Weber Land und Weer.

Treppen und Pfeiler, so über und über mit Farn be­hängen. Viele Gassen sind gänzlich überwölbt, so daß nie die Sonne hineinscheint; über die andern führen von den Dächern schmale steinerne Brücken hinüber. Schöne Frauen­bilder steigen mühelos mit bloßen Füßen auf dem spitzigen Pflaster herauf; sie tragen große, seltsam geformte Gefäße auf den Köpfen. Endlich gelangen wir, immer absteigend, aus der Dämmerung wieder ins Helle; ein flacher Kirch- platz thut sich aus, wo die ganze Dorfjugend feierabendlich beisammen ist. Die Kinder haben große hölzerne Schnarren in der Hand, wie sie in der Karwoche durch ganz Toskana üblich sind, und sie empfangen die Fremdlinge mit be­täubendem Lärm. Und um das Maß des Befremdlichen voll zu machen, rast plötzlich ein Wahnsinniger, barfuß, die Glieder aufs unbegreiflichste schlenkernd, durch die Kinder­schar, die nur noch toller hinter ihm herlärmt, bis der Unglückliche durch das Hintere Pförtchen der Kirche ver­schwunden ist.

Mit einer Art von Grausen verlassen wir das verhexte und doch so seltsam schöne Nest, und draußen unter den eben ausschlagenden Kastanienbäumen fragen wir uns, ob nicht das ganze Terriuca eine Fiebervision unsrer über­müdeten Nerven gewesen ist. Jetzt noch ein steiler Abstieg vierzig Minuten lang auf einer Pflasterung, die ein böser Geist ersonnen hat, dann ist die Cansolibrücke erreicht, und unten an der Ecke hält schon der Wagen, der uns in unser Nachtquartier an der Marina von Fortedeimarmi tragen soll.

Wie im Traum fliegen noch einmal die Erscheinungen des Morgens vorüber: die Cansolischlucht, das Eisenwerk, die Mühlen, aber es dämmert schon, und die Müdigkeit wird überwältigend. Auf der Landstraße von Rnosina bot sich den schlaftrunkenen Augen eine letzte Ueberraschung. Da stand im Mondschein einsam ein marmorner König am Straßenrand, lebensgroß, im wallenden Mantel, die Krone auf dein Kopf, mit dem Gesicht der Bergwand zugekehrt. Wie er dahin gekommen, weiß ich nicht; vermutlich war es ein verhauener" Stein, den die Punktierer aufgegeben hatten.

Die Gegend wird immer flacher, bis etwas Helles ^ durch die Oelbäume schimmert, und ein wachsendes Rauschen kündigt die Nähe des Meeres an. Fortedeimarmi liegt vor uns, das mit seinein von Marmor besäten Strande in der Abendstille einem weiten Friedhof gleicht. Hier giebt es Nachtquartier, gute Kost, reinen Wein, und das Meer singt uns ein donnerndes Schlaflied. In der Frühe des andern Morgens sehen wir noch den Marmor auf die Schiffe verladen, reisefertig für den Welthandel, dann sagen wir den Marmorbergen und allen ihren Wundern Lebewohl.

Wenn der Leser noch einen Augenblick Geduld hat, möchte ich ihm jetzt ein letztes Bild zeigen: den Marmor, der im Begriff ist, menschliche Formen anzunehmen. Michel­angelo pflegte zu sagen, daß die Statue schon fertig im Block stecke, man brauche nur die Schale wegzubrechen, und es ist ein tiefes Gesetz der Marmorplastik, daß man ihr den Stein, aus dem sie hervorgestiegen ist, noch ansehen soll. Das unmittelbare Herausschlagen des Werkes aus dem Blocke hielt die Alten bei diesem Grundgesetze fest; darum sind ihre Schöpfungen so überzeugend und dem Auge so wohlthuend.

Heutzutage wird das Loswinden aus dem Steine meist dem Punktierer überlassen, der nach mechanischen Messungen am Gipsmodell den Marmor um und um wegschlägt, bis sich durch Erreichung der richtigen Tiefen die Umrisse von selbst ergeben; in dieser Fertigkeit sind die italienischen Arbeiter unübertroffen. Dem Meister bleibt dam: nur noch die letzte Ausführung, und die Gefahr des Verhauen?, dieses Gespenst der Bildhauer, wird so auf das geringste Maß beschränkt.

Ab und zu hat aber einer doch noch die Kühnheit, die Gestalt ohne Vorbereitungen frischweg aus dem Marmor herauszuschlagen, und es ist von ganz besonderem Reiz, dabei zuzusehen. Zuerst wird nur ihre Vorderseite flach wie eine Zeichnung sichtbar; allmählich, wie der Meißel in die Tiefe geht, scheint sie in einem Kasten zu stecken, der immer mehr abfällt, bis das Bild, der letzten Fessel ledig, frei heraustritt. Dann ist der letzte und höchste Zweck der ganzen mühsamen Marmorbrechung erreicht: die Geburt des Kunstwerks aus dem Steine.

Alphonse Daudet f.

KWit dem am 16. Dezember in Paris von einein jähem Tode entrafften Alphonse Daudet ist einer jener großen französischen Meister der Erzählungskunst dahiu- gegangen, die mit ihren Werken einschneidend in die Ent­wicklung des Romans unsrer Zeit eingegriffen haben. Iw der Gruppe der Schriftsteller, die wir vielleicht nicht ganz richtig diemodernen Naturalisten" nennen, nahm er seine Stelle zunächst bei Zola ein, der nun mit dem in Deutsch­land wenig bekannt gewordenen Jorris Karl Huysmans der letzte Ueberlebende von ihnen ist.

Wie Zola stammte Alphonse Daudet aus dem Süden. Er war am 13. Mai 1840 in Nimes als der Sohn eines Kaufmanns geboren. Im Jahre 1857 kam er zu­sammen mit seinem Bruder Ernest, der sich gleichfalls als Schriftsteller einen geachteten Namen erworben hat, nach Paris, um dort sein Glück zu suchen. In dem im Jahre 1888 erschienenem BucheRrsntk uns äs IMris^ erzählt er in humoristischer Weise, in welcher Stimmung er der Heimat den Rücken gekehrt. Er war, nachdem er das Lyeeum zu Lyon besucht, zuletzt Klassenaufseher am College zu Sarlande gewesen und hatte sich durch einige unüberlegte Streiche in dieser Stellung unmöglich gemacht. Er war kaum siebzehn Jahre alt und sein Herz so leicht wie seine Tasche; mehr als zufrieden, den Scherereien entlaufen zu sein, von denen ein armerpiou" bedrückt wird, wollte er ein großer Dichter werden und sich durch feine Feder eine Lebensstellung erringen. So rasch, wie er es sich ge­dacht, wollte das nicht gehen, doch kam er vorwärts. An­fangs mischte er sich in das ungebundene Leben und Treiben, das seinen Sammelpunkt damals in derBrasserie des Martyrs" hatte. Diese Brauerei war der Tummelplatz der litterarischeuBoheme" jener Zeit. Da erschien vor allem Murger, wie Daudet ihn nennt,der Homer der Welt, die ihm ihre Entdeckung verdankte", dann Charles Beaudelaire und viele andredow und wackere

Kumpane des freihändigen Litteratentums, die aber fast alle ihr lustiges Leben in etwas trauriger Weise beendet haben. In feinenIreutk uus^ meint Daudet:Jetzt giebt es keine Boheme mehr; die Männer der Feder sind in Paris jetzt so philisterhaft und respektabel, wie sie es nur irgendwo sein können. Sie leben in eleganten Land­häusern vor der Stadt, bezahlen ihre Schneiderrechnnngen und würden, wenn sie keine Franzosen wären, allsonntäglich zur Kirche gehen." Es ist das entschieden eine Wendung zum Besseren, wie denn auch Daudet, der seinem Wesen nach nichts weniger als einBohemien" war, ausdrücklich darauf hinweist, daß auf einen Murger oder Beaudelaire mindestens zehn bis zwölf verbummelte Existenzen kamen, mit allen Fehlern und Lastern von solchen, doch ohne den genialen Zug, der die wenigen Auserwählten kennzeichnete, so daß das Ende derjenigen, die schließlich zu den besseren Ge­filden hinübergingen, oft genug ebensoviel Erbärmliches wie Tragisches an sich hatte.

Immerhin beschleicht einen beim Lesen der Daudetschen Lebenserinnerungen unwillkürlich ein gewisses Mitgefühl mit