Heft 
(1.1.2019) 08
Seite
372
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Dr. Ludwig Fuld.

er das innerste Geistesleben der Völker ken­nen lernen, wer ihre rechtlichen und sittlichen Meinungen und Anschauungen in untrüglicher Weise erfahren will, muß den Entwicklungsgang einer aufmerksamen Würdigung unterziehen, welchen ihr Strafrecht ausweist. Wer es versteht in diesem Theile des Rechts mehr als den dürren Buchstaben des Gesetzes zu lesen, wer seinen tiesern Gehalt zu ergründen vermag, dem offenbart sich das Leben der Volksseele in intensivem Grade. Denn das Empfinden und Denken der Völker, sagt mit Recht Jhering, kann nirgends deutlicher beobachtet werden als im Strafrecht und das Strafrecht ist, wie unser illustrer Zeitgenosse bemerkt hat, in der That das Antlitz des Rechts, es ist der Punkt, wo die fein­sten Nerven zusammentreffen, wo alle Veränderungen sich am ehesten einprügen. Die Beziehungen zwi­schen Strafrecht und Cnltur sind so enge und un­trennbare, daß kein Culturhistoriker, wenn anders er seiner Aufgabe in vollem Umfange gerecht zu werden versteht, es wagen darf, die Cnltur eines Volkes ohne Kenntnis; seiner strafrechtlichen Ent­wicklung darznstellen, und wenn dies trotzdem oft genug geschieht, so bietet dieser Umstand auch eine Erklärung für die unbefriedigende Art und Weise, in welcher manche Geschichtschreiber ihre Aufgabe lösen. Das Strafrecht gestattet einen unmittel­baren Schluß auf die kulturelle Entwicklung. Die strafrechtlichen Satzungen enthalten Anssprüche über die Summe der Handlungen, welche die zu einem größeren Ganzen vereinigten Individuen als Ver­letzungen des Rechts und der Sitte, als Angriffe ans die Lebensbedingnngen der Gesammtheit be­trachten und von diesem Gesichtspunkte ans läßt sich sagen, daß sich im Strafrecht die sittliche Höhe eines Volkes kundgiebt. Wenn in den alten Volks­rechten der deutschen Stämme, die in den ersten Jahrhunderten nach der Völkerwanderung entstan­den, eine außerordentlich erhebliche Menge von Strafbestimmungen sich gegen die Verletzung des Sitteugebotes richtet, so werden nur hieraus schließen dürfen, daß die überschänmende Vollkraft der erst

in die Geschichte eintretenden Völkerschaften die durch die Sittlichkeit gesetzten Schranken zu miß­achten sehr geneigt war, daß aber die Cnltur unserer Vorfahren sich schon weit genug entwickelt hatte, um den Unwillen der Gesammtheit ob solcher Tha- ten durch wirksame Züchtigung des Unbändigen deutlich anszudrücken. In dem Volksrechte der Bayern findet sich eine Bestimmung, welche viel­leicht besser als irgend eine andere die Ansicht des damaligen Gesetzgebers über Sittlichkeit zum Aus­druck bringt. Mit schwerer Geldbuße straft das Gesetz dasHolzmirung" genannte Delikt, d. i. die Frechheit des Mannes, der es wagt, einem frei- geborenen Weibe das hcrabwallende Gewand bis über den Knöchel empvrznheben. Manns indisches Gesetzbuch kennt eine Vorschrift, welche mit strenger Strafe denjenigen bedroht, der in der Gegenwart sittsamer Frauen sittenlose Redensarten in den Mund nimmt. Die Satzungen zeigen, daß die sittliche Anschauung der Völker in jener Zeit schon eine hohe Stufe erreicht hatte und dies ist selbst­verständlich ein sehr wichtiger Beitrag zur Beur- theilung ihrer damaligen Cnltur. Der Eulturgrad offenbart sich aber nicht minder in der Auswahl der Strafen, von welchem das Recht Gebrauch macht, und in der Auswahl der strafbaren Hand­lungen, welche es in das Gebiet der Strafsatznngeu ausnimmt. Je weiter nur in der Cnltur zurück­gehen, desto grausamer werden die Strafen und desto häufiger sind sie für die geringfügigsten Ver­letzungen angedroht. Da finden nur die schmerz­haftesten und mit dem erfinderischen Raffinement eines geübten Henkers ansgestatteten Leibes- und Lebensstrafen. Nach altpersischem Rechte wurde die Ehebrecherin van Hunden zerrissen, in anderen orientalischen Gesetzen wird ihr das Herabstürzen von einem Thnrme angedroht, China und Japan, die sich stets durch besondere Grausamkeit anszeich­neten, kannten das stückweise Zerhacken und Zer­stampfen der Glieder, sogar das mosaische Recht straft sie mit dem Tode. So grausam die Straf­mittel des Abendlandes auch waren, so sehr