Heft 
(1.1.2019) 09
Seite
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vr. meä. Hermann RIencke.

Naturen in der Kindheit und im Jünglingsalter Alle für sich ein, werden bewundert und verwöhnt. Aber schon bei Eintritt der Pubertät zeigen sich dann eigenthümliche Launen, schroffer Stimmungswechsel, einmal hingebende Weichheit, dann grausame Des­potenwillkür. Werden solche Individuen nun nicht von verständigen Erziehern entsprechend behandelt, oder nimmt sie das Leben nicht in ernste Zucht, so verwandelt sich der liebenswürdige Jüngling in einen bizarren, reizbaren Menschen, der überall Streit und Anstoß bekömmt und sich zuletzt aufs Tiefste in seinen Gefühlen gekränkt zurückzieht in die süße Einsamkeit und die rohen Menschen ver­achtet. Einmal aber in Einsamkeit versenkt, geräth er immer tiefer in die Abgründe seiner hypochon­drischen Subjectivität hinein, bezieht alle gleichgül­tigen Handlungen und Dinge auf sich, so geräth er immer tiefer, siehet alle Dinge schiefer und ver­strickt sich zuletzt in ein Netz von Wahnideen. Ge­wöhnlich ist bei derartigen reizbaren Naturen ohne entsprechende Widerstandskraft auch der physische Entwicklungsgang ein ganz abnormer. So zart angelegte männliche Naturen haben oft soviel weib­liches Element in sich, daß sie gar keine instinktive Neigung zu dem andern Geschlechts haben, sie fühlen in sich selbst zuviel Weibliches: Ueberwuchern der Gemüthsseite, des Gefühlslebens der Hingebung, scheuen Zurückhaltens rc. Wilbrandt hat dieses Problem in der Reise nach Riva mit psychologischem Verständniß behandelt. Der Professor, den er schil­dert, istmit sich selbst verheirathet". Es kommt solchen Personen zu Bewußtsein, wie sie ganz an­ders fühlen, als gewöhnliche Menschen und von Neuem fühlen sie sich als ganz andre, getrennt von der menschlichen Gemeinschaft.

Armer unglücklicher Mensch, in dem die Keime zu der edelsten Menscheit lagen! Und wie benimmt sich Dir gegenüber die Welt!? Man muß zugeben, daß eine Reihe solcher hohen armen Menschen durch die rücksichtslose Rohheit brutaler Naturen allerdings schwer gekränkt und geradezu in volle Krankheit hineingejagt werden. Sie haben eben nicht die Widerstandskraft, fühlen sich trotzdem über die Alltagsnaturen erhoben und zeigen nun kindischen Trotz oder schlimme Ausbrüche, statt planmäßige Bekämpfung des Feindes. Dieser Feind aber, ähn­lich dem Rhiuoceros mit harter undurchgängiger Haut im Sumpfe grunzend wühlend, ist unerbittlich, er weiß, er hat die Mehrheit für sich und läßt nicht ab, bis das edle Wild zu Tode gehetzt ist. Er weiß, er ist weniger beanlagt, weniger witzig, weniger gutmüthig, weniger edel, eben gerade des­wegen rächt er sich an dem hohen Menschen, der keine Willenskraft und Widerstandsfähigkeit hat. Nun denke man sich, ein solch armer Mann ver­liert nun noch den Contact mit allen Verwandten,

mit der Person, die die ganze Welt ersetzen kann, mit der Mutter, welch furchtbares Gefühl der Oede und Einsamkeit muß sich seiner bemächtigen! Byron, der übrigens auch kein gutes Verhältniß zu seiner Mutter hatte, die ein launisches excen­trisches Wesen war, machte seinem Zorne in Versen Luft und wurde berühmt, andere können diese Verse nur nachfühlen und sterben elend und wahn­sinnig. (Und wenn der Mensch in seiner Qual verstummt, gab mir ein Gott zu sagen, was ich leide). Denn daß Wahnsinn das Ende dieser Ge- müthsart und Gemüthsstimmung bei Willensschwächen Personen ist, ist unausbleiblich. Dann, wenn das Unglück eingetreten ist, schlägt mit einem Mal die öffentliche Meinung um. Nun wird an dem Wahn­sinn, in den man erst den Betreffenden hineinzu­hetzen beflissen war, gezweiselt, nun wird er als der Edelste und Beste gepriesen, statt den Lebenden schonend zu benrtheilen und bei dem Todten ruhig sachgemäß den Entwicklungsgang und Seelenproceß zu erwägen. Ich finde überhaupt, daß sowohl unter dem Laienpublikum als bei den praktischen Aerzten gute psychologische Kenntnisse sehr wenig verbreitet sind, und Kenntnisse des gestörten Seelen­lebens, nicht nach Hegel oder Herbart rc., sondern rein erfahrungsgemäße und nach treffender Be­obachtung aufgestellte. Unter dem gebildeten Publi­kum ist eine Psychologie (Seelenlehre) verbreitet, wie sie von Theologen und Philosophen der alten Schule ohne Beobachtung gelehrt wurde, unter den Aerzten aber spukt die moderne Theorie, wenn man den Verlauf der Hirnfasern kenne, bekomme man auch Einblick in die Seelenvorgänge. Feine Beobachtung des Seelenlebens zusammen mit mikro­skopischer Erforschung des Hirnfasernverlaufs ist die richtige Methode um weiter einzudringen in die Geheimnisse der Seele, heute aber glaubt man mit dem Mikroskop allein die Räthsel des Seelenlebens lösen zu können und in dieser Ansicht, welche ein­seitige Naturforscher ohne gründliche philosophische Bildung aufstellen, macht man gute Anatomen zu Irrenärzten. Wie ein Professor der Physik noch lange keine Eisenbahnbrücke bauen kann, so kann ein solcher Anatom noch lange keine Irren behan­deln. Zum Irrenarzt gehört aber nicht nur ein guter mikroskopischer Techniker, sondern besonders auch ein voller Mensch mit feiner psychologischer Beobachtungsgabe, die durchaus nicht identisch ist mit physikalischer Beobachtungsgabe. Zum Irren­ärzte gehört nicht ein einseitiger Forscher, sondern ein voller Mensch, den man in jeder Lebenslage gern an die Spitze stellt wegen seines überlegenen Geistes, zum Irrenarzt gehört ferner ein warmes liebendes Herz, für dessen Töne der Irre, wie Kinder, ein feines Gehör hat, für den Irrenarzt ist es sogar gut, wenn er selbst eine feine reizbare Natur