Irrsinn und Irrenärzte.
ist, die im Keime alle die Krankheitsstoffe in sich gefühlt, aber durch Energie überwunden hat. Dann wird er doppeltes Interesse an den Kranken haben und ihrem Gedankengang fein folgen können, ihre Stimmungeil gut verstehen.
Denn mit unwiderstehlicher Gewalt und derselben felbstgewissen Wahrheit, wie bei Gesunden gesunde Gedanken und Ideen sich festsetzen, beherrschen den Irren seine abnormen Gedanken und Stimmungen, die der entsprechende Ausdruck des kranken Gehirns sind. Er muß so nothwendig die ganze Welt als gegen ihn verschworen ansehen, da er nicht begreifen kann, wie ein Gedanke, eine Stimmung, die ihm so natürlich ist, Anderen seltsam und absonderlich „verrückt" erscheint. Findet er nun Verstündniß für seinen Zustand und liebevolles Eingehen aus seine Gedanken, so ist sein Vertrauen bald gewonnen. Wenigstens ist es so bei Beginn des Leidens und deswegen ist auch die möglichst rasche Entfernung der Irren aus ihrer gewohnten Umgebung dringend nothwendig, damit sie bald in verständnißvolle Behandlung kommen. Später ist manchmal das Geistesleben schon so verödet, daß nur noch einzelne Alles beherrschende Ideen, Verfolgung?- und Größenideen meistens, sortbestehen und ein psychischer Einfluß von Seiten des Arztes überhaupt sehr schwer ist. Sinnestäuschungen beherrschen dann außerdem den Kranken in höchst ungünstiger Weise, er hört Stimmen, die ihm verbieten zu essen, oder die ihm auftragen, die oder jene Personen zu morden, weil es der Himmel so wolle, Täuschungen des Geruchsinns spiegeln ihm vor. seine Speisen seien vergiftet re. Daher erklärt sich dann, daß ein sonst gutmüthiger Kranker plötzlich einen Anfall auf Personen seiner Umgebung, Arzt und Wärter macht, einen Mord
419
begeht oder sich selbst um's Leben bringt. Auf diese Weise kann auch der gewiegteste Irrenarzt eil: Opfer seines Berufes trotz aller Vorsicht werden lind ist es schon oft geworden. So ist auch in der entsetzlichen Begebenheit, die jüngst ganz Deutschland erschüttert hat, der hervorragende Arzt ein Opfer seines edlen Berufes geworden.
Es wäre wirklich an der Zeit, daß endlich im Publikum statt der mittelalterlichen Begriffe von Geisteskrankheiten sich eine aufgeklärtere Meinung verbreitete, daß man nicht mehr Geisteskranke als Sünder oder von Gott Gezeichnete ansehe, sondern als Kranke, die dasselbe und noch größeres Mitleid verdienen als körperlich Kranke. Es wäre an der Zeit, daß man von der Hatz abließe, mit der die dumme Menge Nervöse verspottet und höhnt und in wirkliche Krankheit jagt, und daß man ebenso wieder Genesenen den Eintritt ins Leben leicht machte, statt ihn durch Stichelreden und Zischeln zu erschweren. Das Mitleid hinterher ist sehr unangebracht. Dazu aber könnten namentlich auch die Leute, welche die öffentliche Meinung beeinflussen, Zeitungsschreiber und Romanschriftsteller nicht unwesentlich beitragen, indem sie sich selbst zunächst bessere Begriffe über Geisteskrankheiten anschaffen. Noch in den neusten Novellen berühmter Autoren oder Bildern berühmter Maler kann man solchen Abgeschmacktheiten begegnen, daß man nicht weiß, soll man mehr über die Albernheit lachen oder erbittert sein über die wissentliche Verbreitung falscher Ansichten. In dieser Beziehung könnten insbesondere unsere deutschen Schriftsteller viel lernen von den Wenigen, welche die poetische Freiheit nicht als Erlaubniß dummes Zeug zu faseln anffassen.
53 *