Zur Charakteristik König Ludwig's II.
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Gebirge geschahen fast nur des Nachts bei Voll- mvndschein, die Befehle dazu ergingen Plötzlich ohne vorherige Anordnung, ohne Vorsorge für Proviant oder Reiseutensilien, die Bahnzüge von Hohenschwangau nach Schloß Berg, Herren-Chiemsee und Linderhof rasten mit gespensterhaster Geschwindigkeit, wie sie die Gesetze der Mechanik und Technik überhaupt gestatten, manche Achse gerieht in Brand, manches Pferd kam auf Bergpfaden zum Sturz. Auch diese schnelle Hast ist bezeichnend für des Königs Charakter, es liegt ein despotischer Wille darin, auch die gewaltigste und angestrengteste menschliche und mechanische Dynamik sich unterthan zu machen. In der erhabenen Einsamkeit der Gletscherwelt fühlte sich der Geist des Königs wie in einer anderen Welt und es ist zweifellos, daß Ruhe und Großartigkeit der Natur einen mächtigen Zauber auf seine verdüsterte Gemüthsart ausübte. Er fühlte den unheimlichen Druck auf seiner Seele und rang nach Freiheit in besseren Regionen, er fühlte diesen Drang nach Freiheit in sich, frei wollte er sein von des Menschen Leid und Begehr, frei vom Gewühl der Stadt, es zog ihn hinauf in die klaren Lüfte, wo keine Sorge, keine Todteu- grüfte, keine Hofschranzen, wo kein störender Laut an sein Ohr drang, wo allein die Welt ihm vollkommen schien.
Seinen Regierungsgeschäften lag der König nicht ohne Eifer ob, viele Schriftstücke ließ er in müßiger Ruhe sich aufhäufen bis plötzlich ein heißer Arbeitsdrang in ihm schnell reinen Tisch machte; er war klar und bewundernswürdig in seinem Urtheil, dabei ausgestattet mit einem Riesengedächtniß für Personen, Jahreszahlen und Ereignisse, aber alle Arbeiten gingen den schriftlichen Weg und wurden durch seinen Lakaien in's Secretariat befördert. Vorträge der Räthe, denen er seit seiner ersten Regierungszeit gerne aus dem Wege ging, lehnte er wie alle osficiellen Empfänge seit Jahren ab, Besuche von Fürsten nahm er nicht an, er fühlte sich krank und doch zu stolz um sich dem Urtheil der Welt preisgegeben zu sehen; so verschloß er sich vor derselben nicht ahnend, daß er gerade durch diese Zurückgezogenheit dem denkbar mißlichsten Urtheil Nahrung gab und der Klatschsucht Thür und Thor öffnete.
Seit zehn Jahren fragte sich die ganze Welt: Was treibt der König, womit beschäftigt er sich? Antwort: Er studirt Bücher und Zeitungen und fährt von einem Schloß aufs andere um neue Bauten zu projectiren. Es sind aber, abgesehn von den seit Jahresfrist thatsächlich begangenen Handlungen eines Wahnsinnigen, so mannigfache aus Neigung und Abneigung entsprungene Eigenschaften scharf hervorgetreten, daß diese völlig genügen, um über die Ausgangskatastrophe nicht mehr
verwundert zu sein; denn oie Lebensweise des Königs, seine künstlerischen Phantastereien, seine sprungweise unberechenbare Thätigkeit, wurden vom Volke, das ihn verehrte, aber auch fürchtete, immer mehr mit bedenklichem Kopfschütteln hingenommen und seine Geisteskrankheit war zuletzt ein öffentliches Geheimniß, welches Niemand offen auszusprechen wagte. Seine düsteren Eigenschaften waren im Volke nur zu sehr bekannt. Tage-, wochenlang sah er Niemanden als seinen Kammerdiener, der ihm nur die allernothwendigsten Handreichungen machte, sonst wollte er allein sein und man erzählt, daß sein Speisetisch durch eine Versenkung im Fußboden aus den Druck einer Feder erschien und verschwand. Zeitweilig cultivirte der König den allervertrautesten Umgang mit gewissen niedrig gestellten Personen: Unteroffiziere und Stall- bnrschen, womit er rücksichtslos die Schranken niederriß, die seine Stellung gebot. Der realistisch cy- nische Verkehr mit diesen Leuten bildet einen so dunkelen Punkt in dem Leben des sonst so ideal angelegten Königs, daß es besser ist, den Schleier des Schweigens und Bergessens über diesen der Pathologie angehörenden Zustand fallen zu lassen. Die Verleumdung wird auch hier sich einiger Ueber- treibnngen schuldig gemacht haben.
Begnügen wir uns damit, die Lebensweise des Monarchen und sein Ende pathologisch zu begründen.
Genie und Wahnsinn, sagt man wohl mit Recht, sind Geschwisterkinder, der König war ein Genie und folglich auch dem Wahnsinn verwandtschaftlich näher gerückt als Menschen ohne Genie. Wir sehen diese Erscheinung täglich bei solchen Künstlern und Gelehrten, welche nicht blos mit dem ausgestattet sind, was man gemeinhin Talent nennt; man muß einen gewaltigen Unterschied machen zwischen Talent und Genie, das erstere kann anerzogen, ausgebildet sein, das Genie ist von Geburt an da und eine Geisteseigenschaft, die nur den sogenannten Lieblingen der Götter verliehen ist. Das Genie kann Alles, oder ist wenigstens zeitweise bestrebt, Alles zu können. Alles zu erreichen, es achtet keine Hemmnisse und Schwierigkeiten und nimmt einen anderen Geistes- und Gedankenflug als andere gewöhnliche Menschen ihn nehmen, es zieht sich keine Grenzen und ist geneigt, sich über Gesetze, Herkommen, Sitte hinwegzusetzen. Die natürlichen Begleiter des Genies sind: Eitelkeit, Stolz, Eigenliebe, hat es Erfolg, so entstehen hieraus: Dünkel, Blasirtheit, Selbstvergötterung, Größenwahn; wird es nicht verstanden, gekränkt oder verkannt, so ist Menschenscheu, Verfolgungswahn, Rachsucht die Folge. Ein berühmter Irrenarzt theilte alle Menschen nach ihrer Geistesbeschafsenheit in sogenannte Achtel- menschen ein; nach seiner Theorie sind alle Menschen, auch die gesündesten, einachtel verrückt; zweiachtel