Ihr Geheimniß.
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Urtheilsspruch den Kopf wnud gedacht. Welch furchtbare Verantwortung wälzt er da auf unsere Seele, wenn er dem tückischen Zufall, oder nenne ich es höhere Bestimmung, keinen Raum gönnen will."
„Was beschwert Dein Gewissen, Theuerste, sprich Dich ans," sagte er in den weichsten Tönen der Liebe.
Sybille war allmählich an ihm niedergeglitten, das Antlitz in die Hände begraben flehte sie tonlos: „Sieh mich nicht an — ich will Dir Alles beichten."
Da schritt der Klausner eben zur Einsiedlerci herein. Er trug ein Bündel Reisig aus dein Rücken und begrüßte die unerwarteten Gäste mit einem freundlichen Steigen des ehrwürdigen Hauptes.
Sybille war, sobald sie den fremden Schritt heranschlürfen hörte, empvrgesprnngen, Professor Lenz suchte verlegen und zerstreut in seinen Taschen.
„Wir haben hier etwas unfreiwillig Euere Gastfreundschaft in Anspruch nehmen müssen. Erlaubt mir packeo, für Euere Armen . . . ." und dabei suchte er immer hastiger in seinen Taschen und riß Notizbuch, Taschentuch, Brieftasche heraus, Alles vor sich auf den Tisch werfend, ehe er seine Geldtasche fand.
Während er darin nach passender Geldmünze kramte, glitt die Brieftasche von der Tischkante herab und klappte, gerade vor Sybillens Füßen aufprallend, auf dem Fußboden auseinander. Sie beugte sich unwillkürlich danach herab und dann kam ein ächzender Laut von ihren Lippen, ihre Finger zuckten zurück wie verbrannt, ihre Augen hingen stier Volt Grauen und Schreck an dein Miniatur-Porträt auf der Innenseite der Tasche, ihr ausgestreckter Finger deutete geistesabwesend auf das lächelnde Bildnis; hin.
„Wer ist das?" kam es in irrem Entsetzen von ihren aschbleichen Lippen; ihr Gesicht überzog grünlichblasse Leichenfarbe, es sah unheimlich steiicern aus.
Sein Herz stand still vor Schreck. War das die furchtbare Lösung des Räthsels? Wollte und tonnte sie ihm deshalb nicht angehöreu, litt sie an periodischer Geistesstörung und wußte, fürchtete das — — Mit unsäglichem Mitleid breitete er ihr seine Arme entgegen. — Sie floh vor seiner Berührung, in irrer Angst stürmte sie davon, an dem verdutzten Eremiten, an dem tödtlich erschrockenen Arzt vorüber und dem Nachfolgenden voranjagend, die vielen Stufen hinab wie vom Feind gehetzt.
III.
Ihr nach, ihr nach! Ihn durchgrauste die Furcht, sie könne in ihrem Wahn die Stufen Verfehlen, nusgleiten, zerschmettert da unten ankommen.
Aber körpergewandt wie eine Gemse mit sicherem Sprung nahm sie Stufe um Stufe, ohne daß er sie zu erreichen vermochte. Jetzt war sie unten, nun stand sie athemholend, wie eine scharfumschnittene Silhouette in dem Hellen strahlenden Licht, — nun erblickte er sie scholl im Garten der Locanda.
Da nahm sie eben Lady Emmily, aus Sir Spencers Arm sorthumpelnd, in Empfang und küßte sie wie nach langer Trennung. Nun war sie geborgen! Er konnte langsamer Nachfolgen.
Welch eiserne Selbstbeherrschung das junge Weib gewohnt sein mußte, oder war der Paroxis- lnus jetzt liur verrauscht und klare Besinnung zurückgekehrt?
Sie stand hinter Lady Emmilys Stuhl lind nestelte mit flinken geschickten Händen das lange Haar zu graziöser Frisur auf, als Professor Lenz mit scharfem Klopfen bald darauf bei seinen Freunden Einlaß begehrte. Ganz wenig nur zitterte die Bürste in ihrer rechten Hand, mit der sie das goldige Stirngelock glatt strich, aber ihre Wangen sahen erschreckend bleich und hohl wie nach über- standener schwerer Krankheit aus, obgleich die Lippen das wohlerzogene Lächeln festzuhalten bemüht waren, mit dem mall in der Gesellschaft sich verpflichtet fühlt, dem Klagelied Anderer zuzuhören.
Das Werk war vollendet, das süße Gesicht Lady Emmilys lächelte in hoher Befriedigung ans dem Toilettespiegel heraus, dann umhalste sie in Ekstase ihre „ckaar Ni.88 8zG11l." Diese stand im nächsten Augenblick allein an dem Tische, theilnahmlos für ihre Umgebung, gedankenverloren und auch vergessen voir dem glücklichen jungen Paar, das in der Sophaecke sich tausend Dinge nach der langen Trennung von drei Wochen zuzuflüstern hatte.
Professor Georg Lenz legte seine Hand aus ihren Arm. Sie schreckte auf, bebte von Kopf bis Fuß, hob das gesenkte Haupt; nun trafen ihre Augen ineinander. In ihren lag der flehentliche Blick des gehetzten, todtwunden Wildes — ein Appell an sein Mitleid, eine unbeschreiblich rührende Bitte: quäle mich nicht! — in seinen bange Sorge, ängstliche Liebe, — grenzenloses Mitleid.
Ihre beiden gefallenen Hände hob siebeschwörend jetzt zu ihm auf. „Gönne mir Ruh — laß mich zu mir selber kommen — morgen," konnte er aus dem undeutlichen Gemurmel mühsam zusammenlesen.
Leise drückte er ihre verschlungenen Hände, wandte sich auf dem Absatz und ging hinaus. Im Gastzimmer kostete er, das versäumte Mittagbrot» nachzuholen, appetitlos an einer Wachtel herum, dann schleuderte er lange zwecklos durch die blühende Wildniß. Als die Sonne zur Rüste ging, wunderte er hinab an den Strand und rief einen Fischer an, der auf einem großen Kiesel saß und die Maschen seines Netzes ausbesserte.