Ihr Geheimmß.
531
Geheimrath Lange machte ein sehr zufriedenes Gesicht, als er in aller Frühe einrückte. „Sie haben Wunder gethan, Schwester Caritas," nickte er vergnügt. „Ich glaube, wir sind über den Berg. Ein paar Stunden noch der sorgsamen Pflege, um die Kräfte zurück zu briugen, und wir dürfen auf unseren Lorbeeren ruhen. Gott sei Dank, am Abend werd' ich die schwere Verantwortung überhaupt los, da rückt Der ein, der uns Allen als Autorität in so schweren Fällen sonst galt. Jammerschade, daß Ihr Sohn die Praxis ganz an den Nagel gehängt, ich habe kaum je einen genialeren Diagnostiker kennen gelernt. Er hat aber Recht; er kann der Menschheit ungleich mehr nützen, indem er der Wurzel aller Nebel nachspürt und sie wissenschaftlich ergründet. Nun, meine charmante Madame Vautier, was haben Sie uns da zu Weihnachten ausgetischt und nun schlagen Sie, oppositionell, wie Sie immer sind, den Todesahnungen der guten Schmachthahn doch ein Schnippchen, die Hunde heulen und den Todtenwurm picken hörte und tausend Eide schwur, daß es hier einen Leichenschmaus vor Neujahr gäbe, — und empfangen Ihre alten Freunde in höchst leiblicher Liebenswürdigkeit am Sylvester zu den berühmten Karpfen. Wer wird nun für das nächste Jahr von unserer Hellseherin ausgeschrieben? Da Sie Alle Trotz geboten, werde ich wohl an die Reihe kommen, sie müßte denn noch ein fürchterliches Attentat aus meine Freiheit als einzigen Candidaten haben, denn von des Hausgenossen Unnahbarkeit wird sie sich nachgerade wohl überzeugt haben — bei dem ist Hopfen und Malz verloren! — Oder hat die persönliche Pathenschaft bei dem kleinen Engländer jetzt so anreizend gewirkt, — daß — Sie lachen, Verehrteste, Hm, hm! — Sie -vollen wohl nicht vorzeitig aus der Schule plaudern und halten eine Neujahrsüberraschung bereit? Ich wüßte nicht, was den bösen Deserteur so lange sonst in dem Nebellande festhalten sollte."
Der heitere Ton wirkte ansteckend. Es war das Universalmittel des vielbeliebten Arztes, mit dem er jede Hoffnungslosigkeit ans den Krankenzimmer zu vertreiben Pflegte. Seine Neckereien riefen selbst ein schwaches Lächeln auf Schwester Caritas ernstes Gesicht und ein jungfräuliches Erglühen in die etwas bläulichröthliche Farbe von Fräulein Schmachthahn, als sie ihm das Geleite bis zur Entreethür gab und sich dann resolut daran machte, die traurig unterbrochenen Festvorbereitungen nun zu vollenden.
Der erste Festtag schwand langsam dahin. Immer hoffnungsvoller leuchtete Madame Vautiers Auge dem eifrigen Arzte bei jedem neuen Besuche entgegen, immer Würmer und begeisterter pries sie die liebevoll sorgende Umsicht der Pflegerin, immer
strahlender ward des Geheimraths kluges Gesicht nach jeder neuen Pulsprüfung.
„Nun marsch, hingelegt für ein paar Stunden, Schwester," commandirte er mit einer Entschiedenheit, die keinen Widerspruch auskommen ließ. „In einer Stunde spätestens haben wir den Sohn hier, der mag dann weiter bestimmen. Einstweilen bestehe ich darauf, daß Sie sich endlich Ruhe gönnen, sonst brechen Sie mir schließlich zusammen. Vielleicht braucht man heut Nacht Ihre Kräfte noch. Die Gefahr ist vorüber; Fräulein Schmachthahn kann sich vorher in Carbol eintunken, bis an die Nasenspitze meinetwegen, damit sie keine Gefahr läuft, hier ein paar Stunden Wache zu halten. Ich schlage vor, Sie legen sich da nebenan auf das breite Canapee, damit Sie nöthigenfalls zur Hand sind, wenn man Sie rufen möchte, Schwester Caritas."
„Ja bitte, bitte, ruhen Sie," bat dringlich auch die Kranke. „Ich schlafe unter der Zeit auch. Gehen Sie, gehen Sie, Schwester."
Sie gehorchte. Die erlahmenden Glieder, die bleischweren Lider sagten ihr, wie sehr der Körper nach diesen beiden Tagen angestrengtester Tüchtigkeit der Ruhe bedürfe. Die buntdurchwirkten Stores ließ sie an den .Kirchenscheiben nieder, nahm ihr sauberes Häubchen von dem dunklen Scheitel und mit freundlichem Dankwort die Decke aus Fräulein Schmachthahns Händen, die mit gut- müthigem Diensteifer es ihr bequem zu machen suchte.
Sie faltete die Reisedecke auseinander und starrte sie erschrocken an.
Lächerlich! — es gab mehr Tigerdecken mit rothem Rand, als diefe eine, die ihr so wohl bekannt schien. Sie war ja im Hause von Madame Vautier, in einem wildfremden Hanse, wie Vieles sie hier auch gleich Altvertrautem ansieht. Aber die Gedankenverbindung schuf gar wunderbare Traumbilder, als Schwester Caritas sich da aus dem breiten Gesimssopha gestreckt hatte und Fräulein Schmachthahn, nachdem sie die Ruhende sorglich bis zu den Schultern eingehüllt, aus leisen Sohlen hinausgeglitten war.
Sie war wieder in der Eisenbahn und durch das Klappern und Stampfen hindurch glaubte sie erst Lady Emmilys zänkischen Kinderdiskant, daun in leisem Gemurmel die wohltönende Stimme des geliebten Freundes zu hören. Dazwischen sangen in langgezogenen Harsentönen die Meervögel von Capri so sehnsuchtsvoll, so herzbewegend, daß ihr die Brust schwoll im Abschiedsweh und die Thrä- nen langsam unter der geschlossenen Wimper hervortröpfelten. Dann leuchtete es um sie in der magischen Farbengluth der blauen Grotte, die Wasser regten sich um sie in sprühenden Phosphorflammen, das köstliche Element trug sie in weichem Schaukeln