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L. Zoeller-Lionheart.
und eine Hand streckte sich ihr zu. Göttlich verklärt blickte das Greisenhaupt ihres Vaters mildlächelnd auf sie nieder und Sphärenmusik füllte in heiligem Gesang die Märchengrotte. „Heilige Nacht! Stille Nacht! Versöhnung! Versöhnung!" jauchzten Helle Engelsstimmen im Chor.
Sybille erwachte. Heber ihrem Haupte sang ein Cello, von Meisterhand gespielt, seelenvoll in die stille Festnacht. Unten auf der Straße jubelte die Currende ihr: „Heilige Nacht, stille Nacht" — zu den Fenstern der Reichen hinaus. Durch die bunten Fensterscheiben im Erker zitterte die Gaslaterne, rubinrothe und indigoblaue Farbenstrei- sen bis zu ihr hin und drinnen im Krankenzimmer murmelten bei halbofsener Thüre die Stimmen.
Der Traum mit seinen beseligenden Gaukeleien fand die natürlichste Erklärung und doch stand Schwester Caritas Herz still in wonnigem Schreck.
Die Stimme, die wohlbekannte Stimme! Sie rieb sich die Augen. War auch die weiche wohlklingende Stimme noch Traum? — Da unterscheidet sie Worte: „Mein Mütterlein, mein herzliebes Mütterlein, und ich mußte fern sein und einer Fremden das Liebeswerk überlassen und ihr die Erhaltung Deines kostbaren Lebens danken!" und nun hört sie einen schnellen Schritt auf die Thür zukommen. Sie möchte empor springen, irgend wohin flüchten, wo er sie nicht finden kann, aber sie ist wie schreckgelähmt, und nicht mal aus ihrer liegenden Stellung vermag sie sich zu erheben, da er jetzt über die Schwelle schreitet, die Kerze mit der hohlen Hand beschattend, damit ihr Licht die Schläserin nicht wecke.
Auf den Fußspitzen kommt er behutsam heran, um irgend etwas aus dem Tische zu suchen, der vor dem Canapee steht; das unsichere Licht fällt nun aus die regungslose Gestalt, in die weit offenen Augen, da er teilnahmsvoll nach der Lebensretterin seiner Mutter hinblickt. Ein Schrei fliegt ihm von den Lippen, ein Schrei aus den tiefsten Tiefen der Menschenbrust heraus, sein Arm streckt sich unwillkürlich ihr zu, und er jauchzt es in stürmischer Freude: „Sybille! Sybille!"
Nun liegt er auf den Knien vor ihr und seine Arme umranken mit Inbrunst die vergeblich sich sträubende Gestalt. „Wiedergefundenes, theures, verloren gegebenes Gut, jetzt laß ich Dich nicht!" stammelt er fassungslos vor trunkenem Glück, und dann sah er in plötzlichem Erschrecken erst ihr Ordenskleid und seine Finger berührten wie verbrannt das Kreuz an ihrer Brust.
„Sybille, Sybille, was hastDu uns gethan!" rief er vorwurfsvoll und dann athemlos: „Auch das
darf nicht zwischen uns stehen, nichts, nichts mehr! — Ich habe übermenschlich gekämpft im Verzichten,
ich kanns nicht zum zweiten Mal. Auch die Arbeit bringt das glückesdurstige Menschenherz nicht nochmals zum Schweigen."
Sybille saß jetzt aufrecht, sie sträubte sich nicht mehr gegen die Hand, die ihre in fast schmerzhaftem Druck umklammert hielt, sie wehrte ihm nicht, als er sich jetzt an ihre Seite setzte; sie wußte, der Augenblick der Entscheidung war unwiederbringlich gekommen. Er hatte nicht überwunden in all den Jahren, es kam ein letzter schwerer Kampf.
„Die rastlose Unruhe ist doch bei mir in Schlaf gesungen," sprach sie mit Anstrengung. Ihre Stimme klang schwankend — unsicher, — „seitdem ich den geheimen Segen der Arbeit kennen gelernt, seit ich für Andere leben darf. Es wird für uns Beide auch seine Macht wieder ausüben, wenn — wenn wir scheiden müssen."
„Müssen, Sybille! — wieder dieses kategorische Müssen!"
„Müssen!" sagte sie tieftraurig.
„Dann will ich wissen warum."
„Das sollst Du und dann — dann laß mich in Frieden ziehen."
„Bist Du denn zufrieden, einsames Menschenherz?" forschte er angstvoll.
Ein trübes Lächeln zitterte um ihren Mund. „Ich glaubte es bis heute," kam es mit versagender Stimme. „Ich glaubte mir Ruhe unter schweren Kämpfen errungen zu haben. Ein Weib, das nichts hat, als sich selbst, wird den wahren Frieden nimmer kennen lernen, der in der Aufgabe des Selbst an einen höheren Zweck liegt, wie Euch Männern ja schon jeder Berus ihn bietet. Ich gab mich in grenzenloser Liebe der ganzen leidenden Menschheit und hoffte auf Befriedigung. Ich täuschte mich. Das junge Herz will noch ein Mehr — o mein Gott!" Sie schlug erschüttert beide Hände vor die weinenden Augen.
„Sag' mir, was es ist, — sag' mir, was uns trennt!"
„Zur rechten Zeit und am richtigen Platz verzichten kommt uns oft unmöglich vor, wenn wir noch jung sind; und doch Hab' ich es damals möglich gemacht und entschlossen für uns ein Ende machen können, um uns die freundliche Erinnerung zu retten aus den wenigen glücklichen Tagen. Auch das versagte mir das Schicksal. O Georg Lenz, ich sag' Dir nur einen einzigen Namen — und Deine Hand weist zur Thür und Du selbst wirst mich Unglückliche gehen heißen." Ihre Stimme senkte sich zu heiserem Flüstern: „Ich bin die Gräfin Werder von Wallhoven!"
„Großer Gott!" Er saß wie zerschmettert da. Mit demüthig über der Brust gefallenen Händen stand sie vor ihm, in rührender Geduld seines Urtheils wartend.