Nach St. Moritz-Bad.
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Hinaus! Die Straße steigt zum Flüela-Paß empor, 7400", in eine öde schauerliche Bergwelt hinein, wo der Wind nie zur Ruhe kommt und es zwölf Monate Winter ist. Inmitten des diistern Schwarzhorns und des gegenüberliegenden Weißhorns, am Fuße des Schwarzhorngletschers, über dem mit grünem Gletscherwasser gefüllten fast immer gefrorenen Schottensee liegt das einsame aber tröstliche Gasthaus Flüelahospiz. In ihm stärkt sich, was der Bergwind gar zu arg zerzaust, am großen Ofen kann man auch seine nassen Kleider trocknen und „das winzige Haus mit Jubel füllen." Gehen die Wolken auseinander, so blicken vom Osten herüber einige Engadinerberge. Sie dienen uns als Wegweiser.
Bei Zernetz — der wackere Bärenjäger Graß lebte noch und in der Nähe liegt ja das zu Bäreneinsiedeleien wie geschaffene Val Cluozza — bei Zernetz sprang uns der junge Inn entgegen. Wer seine Ufer hinanfwandert, gelangt in ein großes schönes Thal, das bei aller Welt bekannte und berühmte Ober-Engadin, dessen Ortschaften Scanfs, Madulein, Ponte, Campovasto, Bevers, Samaden, Cellerina, Campfer, Silvaplana und Sils, bis hinauf zum Malojapaß, wie Perlen sich an den silbernen Faden des Flusses reihen, und in dieser Perlenschnur glänzt als Edelstein das stolze St. Moritz in der Fassung des schönen Sees.
Das Ober-Engadin war damals unser Reiseziel und wochenlang haben wirs durchstrichen, in seinen Höhen und Tiefen gemessen, bald im Schnee seiner Höhen, bald im dichten Alpenrosengebüsch watend, bei Regen und Sonnenschein, in seinen Hütten rastend und in seinen trefflichen Hotels.
Das Engadin ist trotz seiner hohen Lage eine Thallandschast und bildet ein abgeschlossenes Ganzes. Es besteht aus einem Hauptthal und zahlreichen in dieses einmündenden Seitenthälern. Neunzehn Stunden laug schmiegt im gewaltigen Bogen dieses Hochland sich um den Südosten des Schweizerlandcs, und verbindet Oberitalien bei Chiavenna mit Tyrol und Süddeutschland. Der Inn durchströmt es in seiner ganzen Länge; er kommt vom Malojapaß am Fuße des Septimers herunter, aus einer Höhe von gegen 5800". So muß die Thalsohle der Engadin sehr hoch liegen und liegt in der That höher als die irgend eines andern bewohnten Thales von Europa (mit Ausnahme vielleicht des Dorfes Cresta in Thale von Avers), auch wohnt der Mensch hier nicht wie in andern hochliegenden Ortschaften in armseligen verstreuten Hütten, sondern in stattlichen Gemeindewesen von über 10.000 Seelen, in wohlsituirten, ja schönen, oft sogar reichen und luxuriösen Dorsschasten.
Die Berge, die in anderen Thälern ihm oft gar zu beängstigend und culturhemmend aus den
Leib rücken, treten im Ober-Engadin meist eine halbe, ja ganze Stunde weit auseinander. So entwickelte die Thalsohle sich breit und bot den Ansiedelungen und Niederlassungen der Menschen einen bequemen Raum und genügende Nahrung bei kräftiger Arbeit. Zwischen den Bergen, zu beiden Ufern des Flusses, liegt das fruchtbare Wiesenland, dieses faßt, vom Fuße der Berge an, ein schmaler Wäldergürtel ein, hinter welchem sodann die breiten, bis zu den steil aufragenden, fast überall gleich hohen Gebirgsmauern hinansteigenden Alpweiden liegen, lieber die Gebirgskämme dann schauen die nmgletscherten Höhen herein.
Diese Berge und Höhen gehören dem südlichen Hauptzuge der Schweizeralpen an und bilden ein gewaltiges Hauptglied derselben: die sogenannten Graubündner Alpen. Diese zerfallen in verschiedene Züge; der südliche führt den Namen der Engadiner Alpen, nach ihrer Haupterhebung (4052 Meter) nach der Berninagruppe genannt. Die Berninagruppe, ein Gebirgscentrum, beherrscht das Land wie ein König, dessen Thron auf den vier Füßen des Berninastockes, des Langnardgebirges, des Piz Ot-Albula und des Juliers steht. Als Wächter um diesen Thron her stehen aus der einen Seite der Piz Roseg, Piz Znpo, Piz Palü, Morteratsch, Cresta agiuza, Rosatsch, Surlei, Chagütschin, Sella und Carvatsch, auf der andern der Piz Vadret, Prunas, Prunella, Padella, Piz Nair, die Berge von St. Moritz und unzählige andere, vornehmere und geringere.
Die Gletscher steigen bis in das Nachbarthal von Pontresina hinein: der Morteratsch- und derRoseg- gletscher, bequem selbst einem Damenschuh zugänglich.
Nun vermuthet man mit Recht, wenn man hört, daß St. Moritz 5715" über dem Meer liegt, um 174" höher als Rigi-Kulm, daß ferner die Gletscher den Leuten bis vor die Hausthür rücken, in diesem Thal ein „Sibirien der Alpenwelt", wo des Vogels Sang verstummt und kein Blümlein des Wandrers Hut schmücken kann. Weit gefehlt! Wie oft haben wir auf unseren Streifereien an heitern Sommertagen die Hitze verwünscht, die das Gras auf den Wiesen und an den Hängen versengte. Und doch ist diese Hitze nicht zu vergleichen mit der in einem Südlande. Die Luft des Ober-Engadins ist immer angenehm, auch wenn das Thermometer tief steht, erquickend, erfreulich für die Lungen. Die äther- und federleichte Atmosphäre, der reine tiefblaue Himmel, die prächtige Flora der Wiesen, das thau- frische Grün der Alpmatten stimmt unser Gemüth heiter, macht uns Menschen der Ebene lebefroh. Die Blumen dazu, die sich durch besondere Seltenheit der Species und große Farbenpracht auszeichnen, sind noch immer die Freude der Sommergäste gewesen.