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(01/01/2019) 12
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woldemar Raden.

In Ober-Engadin findet man einen Sommer, wie man ihn nirgends genießen kann und eben im Sommer bekommt es seinen vornehmsten Besuch. Anfang Juli beginnt der Frühlingsmonat des Hoch- thales, der rasch znm Sommer wird. Da treibt die Sonne ihr Werk mit Macht: überall, im fern­sten Winkel, lockt sie das Grün hervor; liegenge­bliebene Schneefelder stören sie nicht, dicht daneben fängt es an zu blühen und das Land wird ein Garten. Das Gras steht in den Wiesen so hoch wie Korn, und ein freudigbuntes Leben entwickelt sich gegen Ende Juli zur Heuernte. Von Anfang Juli an waren die Kurgäste nach St. Moritz ge­kommen, jetzt kommt auch der bergsteigende Tourist. Er findet die Wege schneefrei, die Gletscher zurück­getreten, die Luft ruhig und still und so klar, daß die fernste Ferne um viele Meilen näher gerückt erscheint und die Aussicht eine allumfassende wird. Die Witterung ist jetzt durchaus beständig, kühl- heitern Charakters und bleibt dies oft bis in den October hinein.

Damals erkletterten wir die schneegekrönten Gipfel in toller Lust, und nachdichtend klang es durch un­sere Seele:

Heia! das Schrwegebirg ha'n wir erklommen, Schcm'n in der Thäler vielfurchig Gewind, Schweben wie Adler, von Aether umschwommen, lieber den Wolken und über dem Wind.

Hier blitzt ein Städtlein und dort ein Gefilde,

Dort eines Stromes sich schlängelnder Lauf,

Dort auch ein See, wie ein Menscheuaug' milde, Aus der vernebelten Ferne herauf."

Und Abends saßen wir beim dunkelpurpurnen Veltliner und schwatzten selig über Minne, Hoffnung und Glück, und sangen die theuren vaterländischen Lieder ....

Das ist schon lange her. Die Jahre rollten vorbei und mit ihnen die Minne, die Hoffnung, das Glück; Zeit und Zeitgenossen spielten uns übel mit, und wenn wir unser Angesicht im Spiegel schauen, so wird es uns schier verleidet und wir fragen uns, wie Ponee de Leon:

Ist das Juan Pvnce de Leon,

Der als Page an dem Hofe Bon Don Gomez trug die stolze Schleppe der Alkaldentochter?"

Und Ponee de Leon, der seine Jugend wieder- haben möchte, macht sich aus nach der Wunderinsel Bimini:

Auf der Insel Bimini Quillt die allerliebste Quelle;

Aus dem theuern Wunderborn Fließt das Wasser der Verjüngung.

So man eine welke Blume Netzet mit etwelchen Tropfen Dieses Wassers, blüht sie auf,

Und sie prangt in frischer Schöne.

Trinkt ein Greis von jenem Wasser,

Wird er wieder jung; desgleichen Manches Mütterchen . . .

Das ist der Jungbrunnen, der vielbegehrte, der oftgesuchte, der niegesundene; gegen die Krankheit des Alters Hilst kein Arzt und kein Wasser. Un­zählige Quellen aber entspringen dem Schoße der Erde, das sind die Gesundbrunnen, an denen der Mensch neues Leben trinkt, wie einst am srende- spendenden Veltliner.

Wir sind überhastet, überarbeitet, der Restau­ration bedürftig, unsere Ernährung ist gestört, eben­so die Funktionen des Nervensystems, wir leiden an Hysterie, Hypochondrie, Schlaflosigkeit, unsere Lungen-, Magen- und Darmcatarrhe sind chronisch geworden, unsere Kinder leiden wohl gar an Ra­chitis und Serophulose da heißt es, ein solches Gesnndchrünnlein anfsuchen und wir gehen in allen diesen Fällen nach St. Moritz.

Nein, wir gehen nicht, wir fahren jetzt. Das leichte Ränzlein ist znm dicken Koffer anfgeschwollen, und wir fragen uns, wie bringe ich ihn und mich ans die rascheste, bequemste und billigste Weise an Ort und Stelle?

Wer von Norddeutschland kommt und sehen will, was ich auf der oben angedenteten Bergfahrt geschaut, dringt über den Bodensee vor und fährt von da bis Station Landquart, nimmt Post dnrch's Prättigau, Davos über den Flüelapaß und erreicht nach zehn Stunden jenes Süs in Unter-Engadin, wo er die Post nach Samaden und St. Moritz trifft. Großartige Postronten sind von Chur aus, wo die Eisenbahn vom Norden her ausmündet, Lenz-Albnla und Lenz-Jnlier, wahrhaft herrliche Paßstraßen. Doch giebt es Fälle, wo es uns um die Paßschönheiten gar nicht zu thun ist und dann wählen wir die neuerschlvssene, an Naturschönheiten äußerst reiche Route, die uns durch Tyrol nach dem Unter-Engadin führt. Direete Schnellzugsverbin- dnngen leiten von Paris, Brüssel, Köln, Frankfurt, Basel, Zürich n. s. w. zur Station Landeck an der Arlbergbahn. Von hier aus werden die Reisenden per Post ohne irgend welchen Bergpaß, stets dem Inn entlang aufwärts über die hochinteressante Finstermünzstraße nach Bad St. Moritz befördert, wobei für bequemere Reisende sich der ungefähr in der Mitte der Route gelegene treffliche Kurort Tarasp-Schuls vortrefflich als Zwischen-Station eignet.

Wie nach Rom, so führen auch nach dem Welt­bade unzählige Straßen und die Wahl einer der­selben wird Manchem Qual bereiten; doch unter­steht er ja nicht dem bekannten Gesetz der Teufel und Gespenster:wo sie hereingeschlüpft, da müssen sie hinaus" der Rückweg darf ein anderer sein.