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Viele Wahrscheinlichkeit spricht auch dafür, dass die Mischnaredaktion etwas verfrüht kam. In vielen Fragen der religiösen Satzungen durfte sich R. Juda eine endgiltige Entscheidung wohl Zutrauen, in vielen aber nicht, er musste daher die divergirenden Meinungen mit anführen. Zuweilen waren seine eigenen Ahnen die Vertreter der Minderheit und R. Juda wollte sie aus Pietät nicht todtschweigen; zuweilen waren es berühmte Lehrer, die in der Judenheit grosses Ansehen genossen, und es ging nicht gut an, sie unerwähnt zu lassen. Oft mag auch die Praxis noch schwankend gewesen sein, und R. Juda durfte nicht die eine Ansicht als massgebend aufstellen. Jedenfalls war man noch weit vom Ziele entfernt, die mündliche Lehre zu kodificiren und zu einer religiösen Norm zu erheben.
Die Schrifterklärung hat aber nicht nur in der Entwickelung der mündlichen Lehre eine grosse Rolle gespielt, sondern auch zu der Begründung und Vertiefung der Agada den Anstoss gegeben. Namentlich um die Zeit, in der das Christenthum entstanden ist, erlangte die aga- dische (homiletische) Schriftauslegung einen grossen Aufschwung. Die Geburtsstätte der Agada war unstreitig Alexandrien, wo die Juden, mehr oder weniger mit der griechischen Litteratur vertraut, das Judenthum nicht im äussem Ceremoniell allein bethätigen konnten. Das biblische Wort war ihnen in seiner buchstäblichen Bedeutung fremd, zumal sie es nicht im Original, sondern in der griechischen Uebersetzung kannten. Die
keinen Anstand, die Sache sinngemäss ru erklären. Die Praxis hat mit solchen theoretischen Erörterungen nichts gemein.