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Der Talmud : sein Wesen, seine Bedeutung und seine Geschichte / dargestellt von Dr. S. Bernfeld
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sie auf die spätem Zeit tröstend und erhebend anzuwenden. Aber die Agada ist vielseitiger und gemüthvoller als die Psalmen und die prophetischen Reden zusammen. Die Prophetie trat fast immer strafend, seltener tröstend und verheissend auf, die Psalmen hingegen waren oft der Ausdruck der innern Zerknirschung, aber ebenso oft auch der zürnenden und verwünschenden Anklage. Hingegen spricht aus der Agada eine bezaubernde, zu Herzen gehende und erquickende Lyrik, die uns aufs tiefste ergreift, aber auch gleichzeitig wonnig berührt und beseelt. Sie zürnt eigentlich niemals, sie führt nur ihre stille Klage über die überaus traurige Lage Israels, immer jedoch mit der felsenfesten Ueberzeugung, dass Gott sein Volk nicht verworfen hat, nicht verwerfen kann. Die schweren Leiden sind die verdiente Strafe für den Abfall, aber wenn das Mass voll sein wird, dann kommt für Israel die Zeit der Erlösung und des Heils.

Wer kann dieses prächtige, stimmungsvolle Bild auch nur annähernd wiedergeben? Es sind an ihm keine grellen, schreienden Farben alles ist so verständnisinnig abgetönt, im gemüthlichen, traulichen Halbdunkel gehalten. Nirgends ein schriller Ton, ein allzuheftiges Wort, selbst die Verzweiflung des jüdischen Stammes bricht nie­mals durch. Nein, die Gegenwart ist traurig, aber der dichtende Redner hält sich nicht lange bei der Schilderung der Gegenwart mit all ihren Leiden auf, sein Blick schweift in die glückver- heissende Zukunft, und diese versteht er so herrlich und hoffnungsvoll zu schildern, dass man die Leiden vergisst und mitten in der glücklichen Zukunft zu leben glaubt. Die duldende Nation