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Der Talmud : sein Wesen, seine Bedeutung und seine Geschichte / dargestellt von Dr. S. Bernfeld
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Deutung für die Gegenwart erhält. Die Bibel hört durch die Agada auf, ein altes Religionsbuch zu sein, in dessen Lektüre man sich nur mit religiöser Andacht vertieft. Sie lebt in dem Bewusstsein des Volkes wieder auf; die biblischen Erzählungen sind Ereignisse, die sich vor den Augen der Agadisten abspielen, und die Nutzanwendung für die Ge­genwart ist handgreiflich. Wenn sie z. B. die üblen Gewohnheiten ihrer Zeitgenossen tadeln wollten, so knüpften sie in der Regel an eine biblische Erzählung an, um in ihr die ethische Lehre nachzuweisen, die zu verbreiten sie sich angelegen sein liessen. Es fehlte, um ein Beispiel anzuführen, zu jeder Zeit nicht an Männern, die in der Bekrittelung der Lehrer und Volksführer ihr besonderes Vergnügen fanden. Die Agadisten geisselten diese Unmanier, indem sie an die Worte des grossen Lehrers Mose anknüpften. Dieser klagte einst in seiner Ansprache an Israel:Wie soll ich allein ertragen eure Belästigung, eure Bürde und eure Streitigkeit? (5. B. Mosis 1,12). Wie pflegten unsere Vorfahren Mose mit ihren Belästigungen ermüden? Indem sie ihn stets be­krittelten und ihm in all seinem Thun böse Ab­sichten unterschoben. Wenn er einmal etwas früher als gewöhnlich das Haus verliess, so redete man ihm nach: ja, warum ist er heute so früh ausgegangen, er hat wohl Streit im Hause gehabt. Ging er dagegen einmal etwas später aus, so hiess es wiederum, womit mag er sich so lange zu Hause beschäftigt haben, wohl doch nur mit Plänen, die Volkslasten noch drückender zu machen.

Ein anderesmal wollte ein Agadist die üble Gewohnheit der Leute tadeln, die auf ihre Ver­mögensobjekte mehr aufpassen, als auf das kör-