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tische Lebensnorm betrachtet werden kann. Aber man missverstand diese Worte und fasste sie in späterer Zeit dahin auf, dass die Agada von untergeordneter Bedeutung wäre, trotz der in einer alten Sammlung (im „Sifri“) geäusserten Lehre: „Willst du Gott erkennen, so beschäftige dich mit der Agada.“ Es war dahin gekommen, dass irgend eine nebensächliche Halacha höher im Werth stand als die erhabenste ethische Lehre des Judenthums und die herrlichste Blüthe der Poesie. Glücklicher Weise ist man in der letzten Zeit von diesem schweren Irrthum abgekommen, man hat der Agada nunmehr grosse und liebevolle Aufmerksamkeit zugewendet. Ein christlicher Gelehrter, August Wünsche, hat sich grosse Verdienste um die deutsche Uebersetzung der Midraschim erworben, und in neuerer Zeit hat Wilhelm Bacher eine historische und kritische Sichtung der Agada vorgenommen und ihr Wesen auf wissenschaftlicher Basis dargestellt. Manche gelungene Nachbildung der poetischen Agada besitzen wir ausser vielen andern am vortrefflichsten von Michael Sachs und Moritz Veit („Stimme vom Jordan und Euphrat.“)
Die geschichtliche Entwickelung der Dinge führte dahin, dass die babylonischen Hochschulen die Suprematie in der Judenheit erhielten. ln Palästina verschlimmerte sich die Lage der Juden immer mehr. Unter der Herrschaft des heidnischen Rom hatten sie über Steuerdruck und rücksichtslose Ausbeutung seitens der kaiserlichen Beamten zu klagen, das christlich gewordene Rom fügte den alten Leiden noch die religiöse Unduld -