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Nordfrankreich einen grossartigen Aufschwung. Es entstand die sogenannte Tossaphisten- Schule, d. h. die Methode, den Talmud in derselben Weise erläuternd zu erweitern, wie zuvor die Mischna durch die Gemara erweitert worden ist. Um diese letztere bildete sich somit eine neue Schichte, wie sie selbst sich um die Mischna gebildet hatte. Am meisten thaten sich in dieser Schule der haarspalt enden Dialektik im babylonischen Stil die Schwieger- und Enkelsöhne Raschi’s hervor — Söhne hatte er keine hinterlassen. Der scharfsinnigste und kühnste „Tossaphisl“ war jedoch unstreitig R. Jakob b. Meir, genannt Rabbenu Tarn, ein Enkelsohn Raschi’s. Während sein Grossvater sich auf die Erklärung des Talmuds beschränkt hatte und jeder Dialektik sorgfältig aus dem Wege ging, zeigte sich Rabbenu Tarn im Gegentheil bestrebt, den talmudischen Stoff nochmals durchzuarbeiten, Fragen aufzuwerfen und auf deren Lösung viel Scharfsinn zu verwenden, Widersprüche nachzuweisen und wiederum zu beseitigen. Man nannte diese Methode, die nachher in der Judenheit zu Herrschaft gelangt ist, die pilpulistische, d. h. die dialektische. Kein Wunder auch, dass sie in späteren Jahrhunderten sehr überhand nahm, da der Talmud auch in bürgerlichen Rechtsfragen den Juden massgebend war; von der Deutung eines talmudischen Ausspruches konnte mitunter der Ausgang eines wichtigen Prozesses abhängig sein. Man versuchte an der talmudischen Entscheidung allen Scharfsinn, und die nordfranzösischen Schulen zeigten darin grosse Fertigkeit. Ihre .Zusätze“ (Tossaphot) zu dem Talmud sind später ein wichtiger Bestandteil dieses Sammelwerkes geworden.