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•den Vorzug gegeben habe, ohne dazu immer berechtigt gewesen zu sein. Dieser Tadel ist von unserm Standpunkt aus um so schwerwiegender, als in der That, wenn der maimonidische Religionskodex das Talmudstudium beseitigt hätte, später die irrige Meinung aufgekommen wäre, das ganze nachbiblische Judenthum sei als etwas Fertiges und ohne jeden Widerspruch entstanden, während wir es sonst aus den Quellen als Produkt einer allmähligen, nach geschichtlichen Grundsätzen sich vollziehenden Entwickelung kennen.
Seinen Zweck hat Maimonides mit dem Religionskodex ebensowenig erreicht, wie der Redaktor der Mischna mit dem Versuch, die halachischeDiskussion aus der „mündlichenLehre“ zu entfernen. Aber nichtsdestoweniger ist der maimonidische Religionskodex epochemachend im Judenthum geworden. Selbst Jene, die ihn angefeindet haben, konnten ihn nicht ignoriren. Wohl hat ein Jahrhundert später selbst in Spanien die deutsch-französische Methode des Talmudstudiums immer grössere Verbreitung gefunden, und von einem Schluss der Diskussion konnte bis in das achtzehnte Jahrhundert hinein nicht gut die Rede sein; aber neben der überhand nehmenden talmudischen Scholastik, neben der unendlichen Zahl von Kommentaren und Superkömmentaren zu der Mischna und dem Talmud macht sich stets der Wunsch geltend, für das Volk und den praktischen Gebrauch einen rabbinischen Kodex festzustellen. Natürlich wurde der Religionskodex, je später er kam, desto umfangreicher angelegt. Nachdem der nicht mehr in Geltung stehende Theil, den noch Maimonides mitaufgenommen hatte, in den späteren Kodices ausgelassen worden