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Neues vom
Meister des nationalen baskischm Ballspiels, das ganze Pyrenäendörfer zum Wettkampf gegeneinander auf den Spielplatz führt, alt und jung, Männer und Frauen zu leidenschaftlich sich erwärmenden Zuschauern hat und dem Sieger Ruhm und Gewinn bringt. Eine Kinderfreundschaft mit der Nachbarstochter Graziella entwickelt sich zu einer tiefen, innigen Jugendliebe, trotzdem die Mutter der Geliebten an der dunkeln Herkunft Ramuntchos Anstoß nimmt und von einer Verbindung ihrer Tochter mit ihm nichts wissen will. Während Ramuntcho in einer im Norden Frankreichs gelegenen Garnisonstadt seine drei Jahre bei der Armee dient, gelingt es der Mutter Graziellas, die letztere zu dem Entschluß zu bewegen, in ein Kloster zu gehen und den Schleier zu nehmen. Zurückgekehrt, findet er feine Altersgenossen glücklich und verheiratet, auch den Bruder Graziellas, der ihm immer ein guter Freund gewesen ist, wenn es ihm auch an Energie fehlte, um dem Einfluß der Mutter mit Erfolg entgegenzuarbeiten. Dieses Glück der Altersgenossen läßt Ramuntcho sein eignes Unglück doppelt schwer empfinden. Er kann die Geliebte nicht verloren geben, trotzdem sie ihm hinter Klostermauern unerreichbar scheint. Er wird sie aus dem Kloster entführen, so beschließt er, und mit ihr, deren Liebe er sich auch jetzt noch sicher glaubt, jenseits des Ozeans eine neue Heimat suchen. Der Bruder der Geliebten sagt ihm seine Unterstützung zu, und beide machen sich auf den Weg. Von den großen Schwierigkeiten, ans die sie bei der Ausführung ihres Unternehmens gerechnet haben, stellt sich ihnen keine entgegen. Sie finden das Kloster offen, unbewacht und die freundlichste Aufnahme bei den alten Nonnen. Die freuen sich, einmal Leute von draußen zu sehen, von ihnen in ihrer stillen, friedlichen Einsamkeit Neues zu hören, und auch Schwester Marie Angelika, die vormals Graziella hieß, freut sich des Wiedersehens mit dem Bruder. Ob auch des Wiedersehens mit dem Geliebten? Nichts an ihr verrät, daß die Vergangenheit sie noch zu beunruhigen vermag; der „weiße Frieden" des Klosters hat sie so ganz umsponnen, daß sie gar nichts von den Gedanken zu ahnen scheint, mit denen ihr Bruder und Ramuntcho hier eiu- gedrungen sind. „Die Thür bleibt offen, die Fenster bleiben offen. Das Haus und alle Gegenstände bewahren ihr Aussehen völligen Vertrauens, völliger Sicherheit gegen Entweihung oder Gewaltthat. Noch zwei andre, sehr alte Schwestern kommen herbei, rücken einen kleinen Tisch in die Mitte, decken für zwei Personen und bringen für Arrochkoa und seinen Freund ein kleines, frugales Abendessen: Brot, Käse, Kuchen und reife Trauben von ihrer Gartenmauer. Sie richten dies mit einer fast jugendlichen Fröhlichkeit, mit fast kindlichem Geplauder her, und alles bildet einen sonderbaren Gegensatz zu dem heißblütigen Ungestüm Ramuntchos, das jedoch schweigt und sich zurückgedrängt fühlt — zurückgedrängt mehr und mehr in die Tiefen der Seele. Wider ihren Willen, den Bitten nachgebend, setzen sich die beiden Freunde zu Tisch, einer dem andern gegenüber, und essen zerstreut die einfachen, auf dem blütenweißen Tischtuch stehenden Speisen. Ihre breiten, an Lasten gewöhnten Schultern drücken sich an die Rückenlehne der kleinen Stühle, und das schwache Holz kracht. Die Schwestern kommen und gehen stets mit demselben leisen Geplauder und kindlichen Lacheil, das etwas gedämpft unter der Vermummung hervortönt. Nur sie, die Schwester Marie Angelika, bleibt stumm und unbeweglich neben dem sitzenden Bruder stehen und legt ihre Hand auf seine wuchtige Schulter. Schlank und sein steht sie da, gleich einer Heiligen aus einem alten Kirchenbilde. Düster beobachtet Ramuntcho die beiden. Er hatte vorher Graziellas Gesicht nicht sehen können, so sehr umrahmt und versteckt es die Haube. Bruder und Schwester gleichen sich immer noch. In den langen, mandelförmigen Augen, die jedoch mehr
Wüchertisch.
wie je verschieden im Ausdruck sind, bleibt etwas unerklärlich Aehnliches, leuchtet dieselbe Flamme, die den einen einem abenteuerlichen Leben und der steten Hebung der Muskelkraft, die andre mystischen Träumen, der Kasteiung und Abtötnng des Fleisches entgegenführt. Allein sie ist ebenso zart und schmächtig geworden, wie er kräftig ist. Ihre runde Gestalt, ihre starken Hüften sind geschwunden, das schwarze Gewand fällt gerade herab wie eine Umhüllung, die nichts Menschliches mehr zu umgeben scheint. Znm erstenmal jetzt sehen die Braut und der Bräutigam, Graziella und Ramuntcho einander ins Gesicht, ihre Augen sind einander begegnet. Sie senkt nicht mehr den Kopf vor ihm, aber es ist, als ob sie ihn aus weiter Ferne ansähe, wie hinter einem undurchdringlichen weißen Nebel, wie jenseits eines Abgrundes, jenseits des Todes. Sanft giebt ihr Blick zu verstehen, daß sie wie abwesend ist, entrückt in stille und unnahbare Ferne. Und schließlich schlägt Ramuntcho besiegt die feurigen Augen vor dem jungfräulichen Blick nieder." Ramuntcho und sein Freund gehen endlich, ohne ihr Vorhaben, bei dem sie sich vorgenommen hatten, jede Schwierigkeit zu überwinden, und bei dem sich ihnen nicht die geringste Schwierigkeit entgegengestellt hat, ausgesührt zu haben — sie fliehen beinahe, froh, den Ort hinter sich zu haben, dessen weltabgewaudte Stille ihre Thatkraft lähmt, — der eine, um sein häusliches Glück in den baskischm Bergen wieder aufzusuchen, der andre, um jenseits des Ozeans zu vergessen. Es ist ein sehr unerwarteter Ausgang, den der Roman nimmt: aber er ist sehr überzeugend, und in der poetischen Schönheit der Schilderung des Aenßerlichen wie des Seelenzustandes der Beteiligten gehört er zu dem Wirkungsvollsten, das Pierre Loli geschaffen hat.
Die alte Erfahrung, daß das gleiche Stoffgebiet häufig mehrere Dichter gleichzeitig beschäftigt, bestätigt sich auch jetzt wieder. Ich glaube nicht, daß Wolfgang Kirchbach, Hermann Sudermann und Richard Voß sehr intime äußere oder innere Beziehungen zu einander haben; trotzdem deutet Kirchbach das Neue Testament, Sudermann dramatisiert die Geschichte Johannes des Täufers, und Richard Voß schildert in seinem Roman „Der neue Gott" (Stuttgart, Deutsche Verlags-Anstalt) das erste Erzittern der Götter Roms vor der neuen Lehre Christi. Gegen die Handlung des Voßschen Romans wird sich mit guter Begründung alles das einwenden lassen, was sich überhaupt gegen das Fortspinnen der Schicksale biblischer Persönlichkeiten sagen läßt: Was wir in der Bibel von ihnen hören, erzählt uns von den Höhepunkten ihres Lebens; der Dichter kann da nur noch im Vergleich zu diesen Höhepunkten Unwesentliches hinzufügen. So erzählt uns Voß zum Beispiel von Jairi Töchterlein, daß sie einen Hauptmann von der Leibwache des Tiberius geheiratet habe. Wie er's erzählt, klingt es auch gar nicht unwahrscheinlich oder wenigstens nicht unmöglich. Aber die Jungfrau, die dem Leser immer vor Augen steht als diejenige, die Christus von den Toten auferweckte, wird selbst bei ihren Zeitgenossen für ihr späteres Schicksal wenig Teilnahme gefunden haben. Ich bin überzeugt, wenn sie sich, die Voßsche Phantasie als der Wirklichkeit uachgegangen vorausgesetzt, an der Seite ihres Hauptmanns auf der Straße zeigte, wird niemals einer der Vorübergehenden zu dem andern gesagt haben: „Du, das ist die Tochter des Jairus, die die gute Partie gemacht hat," sondern immer nur: „Das ist die, die tot war und durch ein Wunder wieder lebendig geworden ist." Anders stehen wir Nachgeborenen auch nicht dazu, wie mir scheint. Bedenklicher ist es vielleicht noch, wenn Voß die Maria Magdalena, an der der Herr die große innerliche Wandlung vollführt hat, in einen Paroxysmus der Seelenliebe zu dein Herrn verfallen läßt, der in seinem innersten Kern sich von bacchantischer Raserei nicht viel unterscheidet.