Stechkin.
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„Nein, Baronin, das glaub' ich Ihnen nicht. Sie waren immer für das, was Sie fetzt Realismus nennen, was meistens mehr Ton und Farbe hat, und dazu gehört auch der Storch. Deshalb lieb' ich Sie ja gerade so sehr. Ach, daß doch das Natürliche wieder obenauf käme."
„Kommt, liebe Melusine."
Melusinens kribbelnder kleiner Finger behielt recht. Es kam wirklich Besuch, erst Wrschowitz, dann aber — statt der drei, die sie noch nebenher gemutmaßt hatte — nur Czako.
Der Empfang des einen wie des andern der beiden Herren hatte vorn im Damenzimmer stattgefunden, ohne Gegenwart des alten Grafen. Dieser erschien erst, als man zum Thee ging; er hieß seine Gäste herzlich willkommen, weil er jederzeit das Bedürfnis hatte, von dem, was draußen in der Welt vorging, etwas zu hören. Dafür sorgte denn auch jeder auf seine Weise: die Baronin durch Mit
teilungen aus der oberen Gesellschastssphäre, Czako durch Avancements und Demissionen und Wrschowitz durch „Krittikk". Alles, was zur Sprache kam, hatte für den alten Grafen so ziemlich den gleichen Wert, aber das Liebste waren ihm doch die Hofnachrichten, die die Baronin mit glücklicher Ungeniertheit zum besten gab. Wendungen wie „ich darf mich wohl Ihrer Diskretion versichert halten" waren ihr gänzlich fremd. Sie hatte nicht bloß ganz allgemein den Mut ihrer Meinung, sondern auch in betreff ihrer jedesmaligen Spezialgeschichte, von der man in der Regel sagen durfte, daß sie dieses Mutes auch dringend bedürftig war.
„Sagen Sie, liebe Freundin," begann der alte Graf, „was wird das jetzt eigentlich mit den Briefen bei Hofe?"
„Mit den Briefen? O, das wird immer schöner."
„Immer schöner?"
„Nun, immer schöner," lachte hier die Baronin, „ist vielleicht nicht gerade das rechte Wort. Aber es wird immer geheimnisvoller. Und das Geheimnisvolle hat nun mal das, worauf es ankommt, will sagen den Charme. Schon die beliebte Wendung ,rätselhafte Frauen' spricht dafür; eine Frau, die nicht rätselhaft ist, ist eigentlich gar keine, womit ich mir persönlich freilich eine Art Todesurteil ansspreche. Denn ich bin alles, nur kein Rätsel. Aber am Ende, man ist, wie man ist, und so muß ich dies Manko zu verwinden suchen... Es heißt immer ,üllle Nachrede, drin man sich mit Vorliebe gefalle, sei was geradezu Sündhaftes'. Aber was heißt hier ,üble Nachrede'? Vielleicht ist das, was uns bruchstückweise zu Gehör kommt, nur ein schwaches Echo vom Eigentlichen, und bedeutet eher eine Milderung und Beschönigung. Im übrigen, wie's damit auch sei, mein Sinn ist nun mal aus das Sensationelle gerichtet. Unser Leben verläuft, offen gestanden, etwas durchschnittsmäßig, also langweilig, und weil dem so ist, setz' ich getrost hinzu: ,Gott sei Dank, daß es Skandale giebt'. Freilich, für Armgard ist so was nicht gesagt. Die darf es nicht hören."
„Sie hört es aber doch," lachte die Comtesse, „und denkt dabei: was es doch für sonderbare Neigungen und Glücke giebt. Ich habe für dergleichen gar kein Organ. Unsre teure Baronin findet unser Leben langweilig und solche Chronik interessant. Ich, umgekehrt, finde wbroniguo Zeanäalkuso' langweilig und unser alltägliches Leben interessant. Wenn ich den Rudolf unsers Portier Hartwig mit seinem Hoop und seinen dünnen langen Berliner Beinen über die Straße laufen sehe, so find' ich das interessanter als diese sogenannte Pikanterie."
Melusine stand auf und gab Armgard einen Kuß. „Du bist doch deiner Schwester Schwester, oder mein Erziehnngsprodukt, und zum erstenmal in meinem Leben muß ich meine teure Baronin ganz im Stiche lassen. Es ist nichts mit diesem Klatsch; es kommt nichts dabei heraus."
„Ach, liebe Melusine, das ist durchaus nicht richtig. Es kommt umgekehrt sehr viel dabei heraus. Ihr Barbys seid alle so schrecklich diskret und ideal, aber ich für mein Teil bin anders und nehme die Welt, wie sie ist; ein Bier und ein Schnaderhüpfl und mal ein Haberseldtreiben, damit kommt man am weitesten. Was wir da hier jetzt erleben, das ist auch solch Haberfeldtreiben, ein Stück Feme."
„Nur keine heilige."
„Nein," sagte die Baronin, „keine heilige. Die Feme war aber auch nicht immer heilig. Habe mir da neulich erst den Götz angesehn, bloß wegen dieser Scene. Die Poppe beiläufig vorzüglich. Und der schwarze Mann von der Feme soll im Urtext noch viel schlimmer gewesen sein, so daß man's (Goethe war damals noch sehr jung) eigentlich kaum lesen kann. Ich würde mir's aber doch getrauen. Und nun wend' ich mich an unsre Herren, die dies difficile Kampffeld, ich weiß nicht ritterlicher- oder unritterlicherweise, mir ganz allein überlassen haben, vr. Wrschowitz, wie denken Sie darüber?"
„Ich denke darüber ganz wie gnädige Frau. Was wir da lesen wie in Runenschrift. . . nein, nicht in Runenschrift. . . (Wrschowitz unterbrach sich mißmutig über sich selbst) — was wir da lesen in Briefen vom Hose, das ist Krittikk. Und weil es Krittikk ist, ist es gut. Mag es auch sein Mißbrauch von Krittikk. Alles hat Mißbrauch. Gerechtigkeit hat Mißbrauch, Kirche hat Mißbrauch, Krittikk hat Mißbrauch. Aber trotzdem. Ans die Feme kommt es an, und das große Messer muß wieder stecken im Baum."
„Brrr," sagte Czako, was ihm einen ernsten Augenaufschlag von Wrschowitz eintrug. —
Als man sich nach einer halben Stunde von Tisch erhoben hatte, wechselte man den Raum und begab sich in das Damenzimmer zurück, weil der alte Graf etwas Musik hören und sich von Arm- gards Fortschritten überzeugen wollte, „vr. Wrschowitz hat vielleicht die Güte, dich Zu begleiten."
So folgte denn ein Quatremains. Als man damit aushörte, nahm der alte Barby Veranlassung, seiner Vorliebe für solch vierhändiges Spiel Ausdruck zu geben, was Wrschowitz, dessen Künstlerüberheblichkeit keine Grenzen kannte, zu der ruhig