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Woldemar Raden.
lächelnden Gruße nach mir zurück, dann verschwand sie. Ich lies nach der marmornen Balustrade, um sie die Wendeltreppe hinabsteigen zu sehen. Das Blond ihrer Haare tauchte auf und verschwand in den Windungen der Weißen Stufen; immer tiefer sank es, verlor sich, kam wieder zum Vorschein und sah zuletzt aus wie ein goldner Stern aus einem Schneefelde. Die Gestalt ward kleiner, erschien wie ein Kind, wie eine Puppe, eine Erbse, ein Nichts ... es war wie ein Traum gewesen. Ich erhob die Augen zu der goldenen Madonna und dachte an die Feenwnnder der Kindermärchen. Sie war verschwunden, aber in der Hand hielt ich ihre Visitenkarte, da stand es: »Gräfin Angelica von Höchenheim«, mit einer Krone darüber, und darunter, mit Bleistift: «Hotel Cavonr, 2 Uhr«."
„Sie sind natürlich hingegangen," fragte rasch der Kornmakler, der anfing, sich zu belustigen. Die Cigarre des Marchese war verlöscht, der Apotheker hatte nachdenklich den Kopf in die Hand gestützt, während der Advokat schon längst einen Stuhl herangezogen hatte, auf dem er rücklings saß. Auf der andern Seite saßen vier oder sechs Personen kartenspielend an einen: Tisch. Die Besitzerin des Kaffees schlummerte hinter ihren: Marmorbuffet und Ginegro, der Kellner, spitzte neugierig die Ohren, auch ihn interessirte die Geschichte.
Lionello merkte, daß sein Abenteuer ansprach und fuhr fort:
„Sie sehen ein, daß es an diesem Morgen mit dem Arbeiten vorbei war. Als ich aber in mein Atelier zurückkehrte, fielen meine Augen auf eine große Leinwand, auf der ich seit fünf, sechs Monaten ein Bild entworfen, ohne je mit dem Entwurf zufrieden zu sein. Es sollte die Darstellung der Episode aus Ariost's Rasendem Roland werden, wo er von Angelica spricht, die an den Felsen gebunden . . . Sie kennen die Rolle, Herr Giovanni? . . . Nun, ich werde sie Ihnen erklären." Er entwarf rasch eine Skizze auf dein Marmortische. „Sie müssen wissen, daß der große Ariost erzählt, wie die schöne Angelica, eine Dame ans den Zeiten Karls des Großen, zu ihren: Unglück in die Hände gewisser Seeräuber fiel, die sie an irgend ein Volk, ich erinnere mich des Namens nicht mehr, verkauften. Nun gab es in jenen Meeren ein Ungeheuer, das die schlechte Gewohnheit hatte, jeden Morgen zun: Frühstück am Meeresufer ein schönes Mädchen zu verspeisen. Sehen Sie, Dies ist der Felsen, die Klippe, das ist das Nie er, dies das Ungeheuer mit dem geöffnetem Rachen und einen: drei Meter langen Schwanz . . . ."
Während Lionello zeichnete, reckten Alle in höchster Neugierde den Hals über die Tafel, und Ginegro, der vor Verlangen, zu sehen, platzte, wünschte sich Beine und Hals einer Giraffe.
„So war die arme Angelica gebunden, so ..."
„Ich verstehe," rief der Makler aushüpsend, „das Ungeheuer fraß sie ohne Federn."
„Genau so:
„Dort war sie auf dein Felsen ausgestellt —
Zuin Fraß dem llnthier, an der Brandung Tosen, Das schönste Weib, nackt, wie sie aus die Welt Gekommen war, — von den Erbarmungslosen.
Kein Schleier, der auf all die Reize fällt,
Die weißen Lilien und die rothen Rosen . . . ."
Der Herr Giovanni lachte vor Vergnüge» und sagte:
„Das mag ei:: hübsches Buch sein, ich werd's lesen! Ach die Künstler, die Künstler!"
Herr Paolino aber blinzelte mit den Angen wie eine Katze, die in der Asche zum Schlafen sich zn- rechtgesetzt.
„Das also war die Idee meines Bildes. Seit sechs Monaten nun war ich ans der Suche nach meinem Vorbild, einen: Ideal zwischen den: Melancholischen und dem Capriciösen, nach eine»: Ui: bestimmten, das mir vorschwebte wie ein Schatten, das mein Bild fieberhaft erregte, das mich, wie ich es nicht fand, erst zur Verzweiflung brachte. Ein glühender Durst nach . . . ."
„Gieb mir ein Glas Bier, Ginegro," sagte der Makler, der au seinen Durst erinnert ward.
„Wie ich in mein Atelier trete, die Karte der Gräfin noch in der Hand, da fällt mirs wie Schuppen von den Augen: Angelica! Dies ist auch ihr Name! Das ist ja meine Angelica, die seit sechs Monaten gesuchte, die Verkörperung meines Ideals! Mein Ruhm! Mein Glück! Ich wurde vor Freude fast wahnsinnig und lies durch die Stadt, nur um die Zeit bis zwei Uhr herumzubriugen. Als die Stunde an der Mnseumsnhr schlug, stürmte ich die Hoteltreppe hinan. Nummer 45 wurde mir be bezeichnet; ich klopfte an, es klang mir, als ob ich an meinen Sarg klopfte. Ich kann es nicht sagen, ob ich die Gräfin als das Ideal meiner Gedanken liebte, oder als ein schönes, lebendiges, wirkliches Weib: der Mensch und der Künstler mischten sich in mir und kamen mit einander ins Handgemenge wie betrunkene Eifersüchtige. Wissen Sie, was die Kunst ist, Marchese? Wissen Sie, was Liebe ist,
! Herr Paolino? Wissen Sie, was ein schönes Weib ! ist, Herr Giovanni? Wissen Sie, was siebennnd- zwanzig Jahre bedeuten, Advokat? Nun wohl: Kunst, Liebe, Schönheit, Jugend klopften vereint mit mir an jene Thür. Jener rothe Teufel öffnete.
„Sie ist da?" fragte ich.
„Einen Augenblick warten," antwortete er.
Er ließ mich allein in einem einfachen Vorzimmer. Rechts war eine Thür mit einem großen Sammetvorhang. Dahinter mußte sie sein. Nach fünf Minuten, die nur eine Ewigkeit schienen, kam der Teufel wieder und sagte: