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Ernst Keiter.
Da grüßen jetzt an der Westseite von einem schwindelnd-hohen Bergplateau, von dem breiten Rücken eines wahren Steinriesen, der immer mehr und mehr in die Lüfte zu wachsen scheint, je näher man an ihn heranrückt, kleine Hänschen herab und herüber zur Tiefe, zum See. Dort oben, hoch im blauschimmernden Aether fast, wohnen alfo Menschen jahraus, jahrein, abseits der ganzen großen Welt, nur aus sich selbst angewiesen in allen Stunden ihres Lebens. Ein Klettersteig in Serpentinen, den man vom vorbeiziehenden Dampfer aus kaum zu sehen vermag, führt zum Gelände, zu den blauen Fluthen und hält die Verbindung mit den übrigen Erdenkindern aufrecht.
Vom Fuße der Felswand drüben rudert nun ein Boot unseren: Schiffe, das anhält, zu, erreicht es und giebt seine sonntäglich gekleideten Insassen, einen Gendarmen und ein bäuerliches Pärchen, an den pustenden Dampfer ab. Nun sieht man auch, daß die Leutchen von dort oben, die neuen Passagiere, veritable Menschen sind, keine aus erträumtem Feenreiche und das Märchen schwindet, das uns kurz zuvor noch in den Wesen jener Berghöhe nur Gnomen und Zwerge vermuthen ließ. . . .
In unserer Erinnerung erwacht vielmehr eine der duftigsten Geschichten, ans der Heller Sonnenglanz, Seelenwärme und unbeschreiblicher Zauber entgegenweht. Wie aus einem der meisterhaften Pastellbilder, wie sie noch zu Beginn unseres Säcn- lums so beliebt waren, blickt da ein reizendes Geschwisterpaar in der schönen Tracht der zwanziger und dreißiger Jahre uns an. Camilla und Maria beleben sich unserem geistigen Auge wieder, umstrahlt von der reinen Jungfräulichkeit, die ihnen eigen. Wie im Traume zieht wieder an unserem geistigen Auge vorüber das seinempfundene Gemälde, das uns Adalbert Stifter, der Schöpfer der Novelle in Oesterreich, in seinen „Zwei Schwestern" hinterlassen und das er einst aus der Tiefe seines reichen Dichtergeistes erstehen ließ. . . .
Weiter, immer weiter geht die Fahrt über das wogende Fluthenmeer. Vorüber an Veduten und Perspektiven, welche dem Reisenden, der mit fühlenden Blicken in die Welten beiderseits des Dampfers schaut, die Brust mit begeisterungsvollem Empfinden erfüllen.
Salo, das kleine, schneeig-schimmernde, lebendige Oertchen, das wie emporgestiegen scheint aus der dunkelblauen weiten Bucht, liegt nun drüben, noch fern, wie aus Zucker geformt. . . Von den zahlreichen Hvlzaltanen und Holzgängen, welche die Seeseite der Häuschen zieren, wehen, lustig im Winde flatternd, vielfarbige Tücher, während auf den Stufen, die hinab zu den Wassern führen, aus dem Molo und am Ufer die malerisch gekleideten, lebhaft gesti- culirenden Bewohner stehen, Schiffer und Fischer, ^
Händler und Bauern, barhaupt, barfuß, in Hellen, leichten Gewändern, in blauen oder gestreiften Jacken, in kurzen Hosen, in weiten Hemden, mit nackten sehnigen Armen, schreiend und lärmend, singend und rufend... Drüben liegen die weißglänzenden Landhäuser der begüterten Veroneser und Paduaner, in denen die heißen Sommertage im äolas tür nionta verträumt werden . . .
Der Dampfer zieht seine Furchen durch das glitzernde und leuchtende Wasser, dem Süden zu ... Grünes Jnselland taucht dort in der Ferne ans. Es ist Sermione, die weit sich in die Fluthen streckende Halbinsel, auf der einst der römische Dichter Casus Valerius Catullus stille Stunden verlebte. Dem betäubenden Lärm der Tiberstadt war er entflohen, dein Kummer und Schmerz, der in der eigenen Brust wüthete, vermochte er aber nicht zu entfliehen. Auch auf dem cypressenreichen Eilande gedachte er seiner heißgeliebten Clodia, die des edlen Mannes jedoch nicht würdig war.
Auch der Scaliger ruhmvolles Geschlecht hatte hier im dreizehnten Säculnm gehaust und noch heute sieht man, umwebt vom Geranke der Gräser, die Trümmer ihres Palastes . . .
Die südlichen Ufer kommen näher und näher; Desenzano, der Hasenort, die Einbrnchsstation der Bahnlinie Verona-Mailand, ist erreicht. Der Dampfer legt am Damme an. Miethkutschen und Omnibusse nehmen die Schifsspassagierc auf und befördern sie nach dem Stationsplatze. Bald braust auch der Train heran, welcher die Reisender: gen Brescia führt. . .
Im Hotel dell' Capello empfing uns der diensteifrige Cameriere unter zahllosen Verbeugungen und fortgesetzten Versicherungen seiner devotesten Ergebenheit, wie wahrhafte „Excellcnzen", als die er die Angekommencn auch stets titnlirte.
Aus dem glattrasirten fahlen Gesichte guckte ein paar grauer echter Spitzbubenaugen so recht verschmitzt hervor, und ein scharfer Blick derselben hatte im Nu unsere ganze Persönlichkeit überprüft und taxirt. Mit feinem diplomatisch-vielsagendem Lächeln, die rechte Hand schon auf der Thürklinke, schien der Mann eindringlich zu fragen, ob wir nicht etwa seiner gewissenhaften, erprobten Localkenutniß bedürfen.
Glatt und gewandt wie eine Eidechse war er fast ohne eigentlichen Anknüpfungspunkt und doch wieder nicht so ganz ohne solchen, dabei, uns über das Wesen, über Art und Charakter der schönen, ties- verschleierten Brescianerinnen Ausschlüsse zu geben. Der gute Giacomo war kein kleiner Meister in der Kunst, Alles zu sagen und doch wieder nichts gesagt zu haben, ein würdiger Jünger des großen Talleyrand, des Autors vom „geflügelten Wort", daß dem Menschen die Sprache gegeben sei, um seine Gedanken zu verbergen.