Alkohol und Lultur.
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nung hervor, daß der Genuß berauschender Getränke in fast allen Staaten der Neuzeit zugenommen hat, und in Deutschland erst recht. So weist William Hohle nach, daß in England die Ausgaben für berauschende Getränke von 366,754,444 Pfd. Sterl. in der Periode 1859—1862 auf 482,226.443 Pfd. Sterl., in der Periode von 1869—1872, also um 46 pCt. gestiegen sei. Das Schlimme dabei ist, daß der Genuß des Branntweins namentlich in den unteren, besitzlosen Klassen der Gesellschaft zugenommen hat, während die besitzenden Klassen zum Theil in übermäßiger Weise dem untergährigen, also auch stark alkoholhaltigen Bier ergeben sind.
Gerade aber bei den besitzlosen, schlecht ernährten Klassen, die zum Theil auch schlecht und ungesund wohnen und keine Anleitung zu geistigem Genuß, anregende gute Geselligkeit haben, gerade bei diesen Klassen finden wir die schlimmsten Wirkungen des Alkohols, der von diesen Klassen in der ungesundesten Form des Schnapses genossen wird. Die Zunahme des Consums an Schnaps fällt ganz allein auf diese unteren Klassen und mit dieser Zunahme die Zunahme soeialen Elendes aller Art. — Kranke, Bettler, Verbrecher, Irre, Waisen und Wittwen schafft der Alkohol, die alle der Gesellschaft zur Last fallen und Zündstoff sind für eine Revolution.
Manche Arbeiter trinken täglich ein Quart Branntwein, ja noch mehr und vertrinken damit ein Drittel ihres Verdienstes, sagt ein Geistlicher in Westprenßen. Von Ostpreußen aber heißt es: Dean Masur ist der Branntwein das tägliche Brod, er genießt ihn nicht nur aus Durst, sondern und ebensogut aus Hunger. Er genießt Kartoffeln und Sauerkraut Jahr aus, Jahr ein. Brod ist selten, für Viele ganz unbekannt. Er trinkt den Schnaps Morgens, er trinkt ihn Mittags und Abends in Freud und Leid, Frauen und Männer w. Er trinkt ihn, weil er arm ist, und weil er ihn trinkt, ist er noch ärmer geworden. Aehnlich ist es in Posen und in einem Theile Schlesiens. In keinem andern europäischen Lande, sagt Lorinser, hat der Branntwein so verderblich gewüthet als in Oberschlesien. Bei Hochzeiten stieg der Unfug so hoch, daß das Brautpaar oft mit allen Gästen vom Altar zurück- gewiescn werden mußte. Bei Kindtaufen geräth der Täufling nicht selten in Gefahr. Fassen wir noch einmal die Folgen gewohnheitsmäßigen Genusses großer Quantitäten Alkohol, namentlich in der Gestalt des Branntweins, aber auch der schweren Biere zusammen, so müssen wir constatiren, daß
1) das Familienglück zerstört wird, die Erziehung der Kinder vernachlässigt und endlich — das Furchtbarste — den Kindern ein Fluch mitgegeben wird auf ihre Lebenslanfbahn, der sie unfähig macht zum Kampfe ums Dasein. Theils werden
sie wieder trunksüchtig, theils zeigen sie moralischen Blödsinn mit gänzlicher Unerziehbarkeit, theils sind sie nervös, unglücklich, unzufrieden, immer bereit zur Flasche zu greisen, um Ruhe zu finden, theils exaltirt, oft sogar Gewohnheitsverbrecher. Sie sind Stiefkinder der Natur und leiden unter dem Joch einer schlechten Organisation.
2) Uebermäßiger Alkoholgenuß ist der wichtigste Grund der Verarmung, da allmählich die Besonnenheit und Willensstärke verloren geht.
3) Trunksucht macht den Körper weniger widerstandsfähig gegen schwere Krankheiten, denen Säufer leicht unterliegen.
4) Trunksucht führt zu vorzeitigem Lebensende durch die direkten Folgen.
5) Trunksucht ist eine der ersten Ursachen des Irrsinns, der mit dem Delirium beginnt und allmählich zu völligem Blödsinn führt. Die meisten Irrenärzte und zwar in Europa wie Amerika schreiben der Trunksucht einen sehr großen Procentsatz als Ursache der Geistesstörungen zu, Rnsh berichtet, daß in dem großen Pensylvauia Hospital ein Drittel der Geisteskranken dies durch Mißbrauch geistiger Getränke geworden ist. Ja, es besteht die Meinung unter Fachleuten, daß die bei den in Cultur und Civilisatiou am meisten fortgeschrittenen Nationen immer mehr anschwellende Zahl von Geistesstörungen zusammenhängt mit dem zunehmenden Mißbrauch geistiger Getränke. Dieser Mißbrauch geistiger Getränke aber hängt wieder zusammen mit dem gesteigerten Kampfe um materielle Güter, dieser aber zum Theil wenigstens von einer falschen Lebensansicht, die sich auf Genußsucht zuspitzt und es verlernt hat, Glück bei bescheidenen äußern Ansprüchen im Innern zu suchen.
6) Endlich ist die Trunksucht auch die Quelle von Verbrechen gegen sich selbst, der zahlreichen Selbstmorde, zu dem der Entschluß einem durch Alkohol verkommenen Gehirn entspringt und eine der wichtigsten Entstehungsnrsachen der Verbrechen aller Art.
Unter 1129 Mordansällen, die in Frankreich von 1826 bis 1829 verübt wurden, waren 446 in Folge von Zank und Streit in den Schänken. Von 1825 bis 1870 hat sich die Procentzahl der rückfälligen Verbrechen von 10 Procent auf 37 vermehrt, der Alkoholconsum aber ist per Kopf der Bevölkerung von 1,09 Liter 1831 auf 2,54 Liter 1869 gestiegen.
In Belgien waren 27 Procent aller Verurteilten in allen Strafanstalten 1860 dem Trünke ergeben. In Preußen aber sind der Mord in 46,1 Procent und der Todtschlag in 63,2 Procent der Fälle im Zustande der Trunkenheit, Körperverletzungen schwerer Art in 74,4 Procent und leichter Art, die nur mit Gefängnißstrafe belegt wurden in 63 Procent im angetrunkenen Zustande
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