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Moritz von Reichenbach.
„Ist er es oder ist er es nicht?" dachte der Assessor. „Es scheint mir doch, als hätte er vorhin einen braunen Rock angehabt, und jetzt trägt er einen grauen. Entweder ist mein kleiner Fuchs von einstmals ein großer Don Juan geworden oder er hat einen Doppelgänger."
Er ging in das Kurhaus und ließ sich die Liste der Gäste geben. Richtig, da standen sie, die Her- salls waren in Massen gekommen, wie es schien. Und seit drei Tagen waren sie in Lorbeck — wohnten ganz in der Nähe des Assessors, es wäre also ein bequemer und angenehmer Umgang gewesen, wenn nicht —"
Horst von Hägens Gedankengang wurde durch eine ihm wohlbekannt klingende Stimme unterbrochen, welche in ziemlich erregtem Tone die Kur- liste von dem Oberkellner verlangte.
Horst blickte sich um —
„Nein, ich irre mich gewiß nicht — Horst von Hagen?" rief der zuletzt Eingetretene.
„Karl Hersall, das ist ja ein reizendes Zusammentreffen!" Horst reichte ihm beide Hände entgegen.
Eine Viertelstunde später saßen Beide unter der Veranda des Kurhauses und feierten ihr unerwartetes Wiedersehen mit goldigem Rheinwein, der ihre Heidelberger Erinnerungen feurig belebte und sie bald den Zwischenraum von Jahren, der zwischen einst und jetzt lag, vergessen ließ. Sie hatten einander in dieser Zwischenzeit gänzlich aus den Augen verloren, denn Horst's Heimath lag in den Rheinländer: und Hersall war in den östlichen Provinzen zu Hause.
„Wir leben jetzt mehr in Ungarn drüben als auf unsrem kleinen schlesischen Gute," erzählte Karl Hersall. „Ein Bruder meines Vaters hatte dort große Besitzungen, welche mein Vater jetzt verwaltet. "
„Hat Dein Onkel keine Familie hinterlassen?"
„Nur seine Wittwe, eine kränkliche Frau, deret- wegen wir hier sind."
„Ah, eine Erbtante also!"
„Ja, die Bezeichnung würde ganz gut für sie passen. Erstens fallen die Güter nach ihrem Tode durch Familienbestimmung einmal an unsre Linie, und dann verfügt sie noch über ein so bedeutendes Vermögen, daß sie sich zur Erbtante qualifieiren würde. Besser jedenfalls als zur ersten Liebhaberin!"
„Nach einer solchen hast Du Dich aber auch schon umgesehen," meinte Horst lächelnd.
Karl Hersall seufzte.
„Ich weiß Wohl, daß Du uns im Walde gesehen hast — und darum ist es auch besser, daß ich meine Karten vor Dir ganz aufdecke. Die junge Dame, mit der Du mich trafst, ist Fräulein Irene von Seiger, die Stiefschwester meiner Tante. Wir
sind heimlich verlobt, aber unsre Verhältnisse erlauben uns nicht, damit offen hervorzutreten — es ist eine unglückselige Geschichte — stelle Dir vor, daß mein Vater sich mit dem Gedanken trägt, aus mir und der »Erbtante« ein Paar zu machen. Ich sterbe aber lieber, als daß ich mich an diese kalte, langweilige, kränkliche Frau schmieden lasse, die noch dazu älter ist als ich. Mein Vater ist mit mir und meinem Bruder nur hierhergegangen, damit jede anderweitige Annäherung an die Erbtante vvn vornherein unmöglich gemacht wird. Als ob sie verführerisch wäre! Du solltest sie kennen! Aber wir, Irene und ich, schlagen Kapital aus dieser Grille. Irene hat ihre Mutter vermocht, die Stieftochter ebenfalls zu begleiten — man hat im Bade doch immerhin mehr Freiheit sich zu sehen als daheim."
„Sage einmal," unterbrach Horst den Bericht seines Freundes, „sieht Dein Bruder Dir ähnlich?"
„Ja, sehr, besonders seit er den Bart gerade so trägt wie ich. Er thut das nur um mich zu ärgern — er macht nämlich auch Irene den Hof — aber er liebt sie nicht, wie ich, er gehört nur zu den Menschen, die hinter jeder Schürze herlaufen. "
„So, so "
xroxos, wenn Du Gelegenheit haben solltest, ihn mit irgend einem hübschen Weibe bekannt zu machen, so versäume es doch ja nicht — er greift nach jedem neuen Spielzeug, und ich wäre ihn dann los. Jetzt ist er mir bei Irene manchmal wirklich sehr unbequem."
„Hm, hm."
„Aber ich langweile Dich mit meinen Geschichten, nicht wahr — ja, weß das Herz voll ist ..."
„Du langweilst mich gar nicht — aber ich an Deiner Stelle würde direct zur Erbtante gehen, ihr sagen, daß ich ihre Stiefschwester liebe und um ihren Schutz bitten."
„Wo denkst Du hin?"
„Ist sie etwa selbst verliebt in Dich?"
„Die Erbtante? O nein! Die ist wohl alt geboren worden und nie in ihrem Leben verliebt gewesen. Wenn sie einmal an's Sonnenlicht kommt, werde ich Dich vorstellen. Da kannst Du selbst urtheilen."
„Dann sprich ein offnes Wort mit Deinem Vater. Ich bin immer für offnes Visir."
„Du kennst meinen Vater nicht. Direkter Widerspruch hieße bei ihm die Pferde hinter den Wagen gespannt. Nein, nein, mir bleibt nichts andres übrig als zu laviren. Irene und ich wir sind ja noch jung — die Zeit muß für uns das beste thun. Aber schwer ist das alles manchmal, Du glaubst nicht, wie schwer es ist! — Doch nun sprechen wir von Dir. Wie lebst Du, was treibst Du?"