Frau Eva.
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Waldweg herauf kam eine dunkle Frauengestalt geschritten. Jetzt hob sie den Kopf, und Horst eilte ihr entgegen.
„Ich fürchtete schon, Sie würden auch heute ausbleiben, gnädige Frau!"
„Ich wollte es eigentlich auch, aber der Wald ist so schön — ich hielt es nicht aus in dem engen Garten!"
„Ja, nicht wahr, der Wald ist wnnderschön — wer seinen Zauber einmal recht empfand, über den hat er Gewalt, und zieht ihn immer wieder magnetisch an."
„Sie haben Recht, das Waldesrauschen und die Vogelstimmeu sprechen eine eigene Sprache." Sie standen neben einander auf dem Wege. Die Baronin war sichtlich bemüht, ihre Befangenheit hinter diesen allgemeinen Waldbetrachtungen zu verbergen und Horst fand sich ungeschickt und albern, weil er dieses Gespräch mit erzwungener Lebhaftigkeit festhielt und fortsetzte. Da er aber durchaus nicht wußte, wie er ein andres anknüpfen sollte, und da Frau Eva gar nicht geneigt schien, ihm dabei zu Hülse zu kommen, so tauschten sie noch eine ganze Reihe von Betrachtungen über dieses Thema aus. Endlich fragte Horst, ob sie den etwas entfernt gelegenen Räuberstein schon besucht habe. Sie verneinte. Er bot sich als Führer an, und, ohne daß sie seinen Vorschlag positiv angenommen hätte, schlugen sie doch den Weg dorthin ein. Da Frau Eva Horst's Besuch in der Villa Schellen nicht erwähnte und entschlossen schien, alles zu vermeiden, was sie persönlich betraf, so suchte Horst in Gedanken nach einem unverfänglichen Thema im Styl der Waldbetrachtungen. Das Buch, das er in der Hand trug, half ihm dabei. Er erzählte von der Novelle, in die er hineingeblickt habe, „wie in eine schöne Waldlandschaft, in die man plötzlich von einer einsamen Höhe hineinblickt, die viel zu versprechen scheint, von der man sich aber sagt, daß es genußreicher sein müsse, zu zweien allein hinabzusteigen.
„Wollen Sie mir diese Geschichte vorlesen?" fragte Frau Eva schüchtern.
„Ich dachte daran," erwiederte er; „aber ich wußte nicht, ob ich Sie bitten dürfte, mir zuzuhören."
„Sylvanus — das heißt ja wohl »Der Waldmensch«," sagte sie, „ich denke, wir sind am rechten Ort für diese Lektüre, für eine Partie nach dem Räuberstein wird es heut ohnehin zu warm sein."
Zur Seite des Weges standen hohe Fichtenpyramiden, deren Zweige sich weithin über den grünen Waldboden breiteten. Frau Eva stieg einige Schritte an der sanft aufsteigenden Bergwand empor und setzte sich zwischen die hängenden Fichtenzweige. Horst lagerte sich in das Moos zu ihren
Füßen und begann die Erzählung von dem armen Berghirten Masu, dessen stilles Heimathsdorf plötzlich von Ingenieuren und Eisenbahnarbeitern überschwemmt wird, die die Poesie des Bergwaldes vernichten, Masu's Hütte, die ihren Bauten im Wege steht, zerstören, Thal und Berge so verwandeln, daß er die Heimath nicht mehr wiedererkennt und ein Fremdling wird, da, wo er bisher daheim war. Er versteht die Welt und die Menschen nicht, und als das einzige Wesen, das er zu verstehen glaubte, sich von ihm ab und den Fremdlingen zuwendet, da verwandelt sich die Liebe in seinem Herzen in Haß, in zerstörenden, sich selbst und andere vernichtenden Haß. Unter rollenden Felsstücken, die er von der Höhe herabschleudert, und die als Steinlawine die fremden Arbeiter und das Weib, das er liebte, zermalmen, begräbt er alles — seinen Haß und seine Liebe.
„Armer Masu," flüsterte Frau Eva.
„Besser," meinte Horst, „mit einem Schlage die Vernichtung herauszubeschwören, als langsam zu Grunde zu gehen, weil man unter Verhältnissen lebt, die das Leben unerträglich machen."
„Ja," seufzte sie, „wer dazu nur die Kraft hätte."
Sie stand aus und, als, fürchte sie, daß Horst auf ihre Bemerkung antworten könne und wollte ihn dieselbe so schnell als möglich vergessen machen, fuhr sie hastig fort: „Ich danke Ihnen für diese
gute Stunde, mir war, als sähe ich alles, was der Dichter erzählt, lebendig vor mir, ich hatte mich selbst vergessen, und das ist doch immer das beste, was einem begegnen kann. Doch nun muß ich an den Rückweg denken, der Traum ist aus."
Mit steigendem Interesse hatte Horst zu ihr aufgeblickt, hundert Fragen wollten sich auf seine Lippen drängen, aber eine ihm sonst fremde Scheu hielt ihn ab dieselben zu thun. Ihm war dieser Frau gegenüber wundersam zu Muthe, er hatte die Empfindung, als könne ein unvorsichtiges Wort sie für immer verscheuchen. Er dachte nur daran, eine Gelegenheit, sie bald wiederzusehen, herbeizuführen.
„Wir gehen also heute nicht nach dem Räuberstein?" begann er, „doch hoffe ich, Sie erlauben mir ein ander Mal Sie dorthin zu führen, wenn Sie den weiten Weg nicht scheuen."
„Den weiten Weg?" wiederholte sie, „glauben Sie mir, ich würde gern den ganzen Tag im Walde umhersteigen!"
„Aber dann sollten Sie sich doch den Spaziergängen Ihrer Verwandten anschließen. Ich habe mit denselben schon sehr schöne Touren gemacht — für heute Nachmittag hatten wir eine Fahrt nach dem grauen Berge verabredet — könnten Sie sich nicht entschließen, dieselbe mitzumachen?"