G. van Muyden. Die deutsche und die französische Sprache.
203
Sobald aber diese Worte aneinandergereiht werden, sobald man sie biegt und zu Sätzen verbindet, ist es mit der Herrlichkeit im Großen und Ganzen vorbei und die deutsche Sprache muß der französischen wie der englischen und selbst der niederländischen den Vorrang einräumen.
Mit anderen Worten: die französische und englische Sprache haben das Alter der Reise erreicht, die deutsche dagegen kaum das Jünglingsalter. Sie befindet sich etwa in dem Zustande der französischen Sprache vor Malherbe und Corneille und es wird noch einer anstrengenden, vielleicht Jahrhunderte langer Arbeit bedürfen, ehe sie das Ideal erreicht, ehe sie die Schlacken abwirft, die ihr, wie jedem noch im Umbildungsprozeß begriffenen Idiom, noch anhaften.
Das sind sehr kühne Behauptungen und wir fürchten, daß wir damit bei vielen Lesern Anstoß erregen.* *) Bei näherer Ueberlegung werden Sie indessen selbst sagen, daß man Niemandem zu nahe tritt, wenn man ihm vorhält, er sei noch jung und werde noch manche Wandlungen durchmachen. Kein Franzose nimmt es übel, wenn er darauf aufmerksam gemacht wird, die Sprache Rabelais bezeichne ein Uebergangsstadium und sei keineswegs als das Ideal zu betrachten. Eine Sprache im Jünglingsalter hat ja eine lange, gesegnete Zukunft vor sich, eine reife Sprache dagegen, wie die französische, geht höchst wahrscheinlich dem Verfall entgegen und es machen sich in der That bereits bei derselben vielfache Anzeichen des herannahenden Greisen- alters**) bemerkbar.
daß das Englische es verstanden hat, das romanische mit dem germanischen Elemente zu einer, nämlich zu der englischen Sprache zu vermählen, hat ihr eine Fülle und einen Reichthum gegeben, wie sie keine der lebenden Sprachen besitzt. Indem der Engländer die romanischen Bestand- theile seiner Sprache unter germanisches Laut- und Betonungsgesetz zwang, streifte er das Fremdartige von ihnen ab. Wer erkennt denn in unserer Sprache Ausdrücke wie: Fenster, Kloster, Wall, welche doch sämmtlich dem Romanischen entstammen, als Fremdwörter wieder. Und nach des Herrn Verfassers Anschauung, eine Anschauung, die übrigens auch schon ausgesprochen worden ist, müßte ja das Französische, dessen Wortschatz der Hauptsache nach dem Volkslatein entlehnt ist, fast nur aus Fremdwörtern bestehen. Wenn der Herr Verfasser übrigens sagt, daß „die französischen Ausdrücke in der englischen Sprache nicht den Eindruck von Fremdlingen machen", so entspricht dies vollständig unserer Meinung, dürfte aber im Wiederspruch mit der an dieser Stelle von ihm entwickelten Anschauung stehen.
*) Ganz im Gegentheil. Auch wir sind der Ansicht, daß das Deutsche, namentlich in stylistischer Hinsicht, noch gar sehr der Aus- und Durchbildung bedarf. Wir freuen uns, daß jetzt ein frischerer Zug durch das deutsche Volk geht, welcher auf die Veredelung unserer Muttersprache gerichtet ist.
**) Wir möchten eher glauben, — und das, was der Herr Verfasser später über Zola und die neuere realistische
Wir wollen es nun versuchen, für unsere über- kühneu Behauptungen Beweise beizubringen, soweit bei einem solchen Gegenstände von Beweisen die Rede sein kann und der beschränkte Raum es gestattet.
Der Wortschatz der deutschen und der nahe verwandten germanischen Sprachen ist, meinen wir, geradezu unübertrefflich. Im Gegensatz zu den ungemein verwitterten und sehr gemischten romanischen Sprachen, hat die deutsche im Großen und Ganzen ihren Kern, den Wurzelt) orrath, ziemlich rein erhalten, und sie ist in dieser Hinsicht dem herrlichen Sanskrit sogar ähnlicher, als selbst das Griechische und Lateinische. Aus diesen, ver- hältnißmäßig wenig zahlreichen Wurzeln bildet sie in der regelmäßigsten Weise, mit Hülse ihrer vielen Vor- und Nachsilben, sowie auf dem Wege der Zusammenlegung zweier oder mehrere Stämme einen ungeheuren Wortschatz, der ihr den Ausdruck der feinsten Nüancen gestattet, und auf Jeden den Eindruck eines stylvollen Gebäudes machen muß. In der oben genannten heiligen Sprache der Inder ist die Regelmäßigkeit der Wortbildung so groß, daß es nicht schwer fällt, mit Hülfe eines Wurzellexikons und einer Grammatik die sanskritischen Literaturschätze zu entziffern. So einfach liegen wegen der Durchsetzung mit fremden Elementen, die Dinge im Deutschen freilich nicht; wer indessen unseren Wurzelschatz beherrscht und die Bedeutung der Vor- und Nachsilben kennt, kommt verhältnißmäßig leicht zu einem Verständniß unserer Sprache. Das erkennen auch die Ausländer an, mit denen wir zu Verkehren Gelegenheit hatten, und sie halten deshalb die Erlernung des Deutschen für keineswegs so schwierig, als man es sich vorstellt. Die Ansicht theilen wir auch und wir sind der Meinung, daß eine gründliche Kenntniß der französischen Sprache im Großen und Ganzen schwerer zu erlangen ist.*)
Schule in Frankreich sagt, scheint uns in dieser Anschauung zu unterstützen, — daß die französische Sprache sich in einer Uebergangsperiode befindet. Mag die heutige Sprache auch vielfach auf Abwege gerathen, wenn sie aus dem Dialekt, der Sprache des Volkes, des Handwerkes u. s. f. schöpft, sie hat damit doch unzweifelhaft den richtigen Weg betreten, um zu größerem Wortreichthum und freierer Bewegung zu gelangen. So lange eine Sprache noch neue Nahrung aus dem heimischen Boden saugt, so lange ist sie noch nicht verloren, im Gegentheil gewinnt sie gleich dem Riesen Antheus bei seiner Berührung mit der Mutter Erde neue Kraft.
*) Im Grunde genommen ist wahre Meisterschaft in einer Sprache ebenso schwer zu erreichen, wie in der andern, weil alle Sprachen in dem Hauptpunkte gleich, nämlich unendlich schwierig sind. (Schmitz, Encyclopädie des Philol. Studiums der neueren Sprachen, Theil III, S. 320 bei Besprechung der lexicalischen Schwierigkeiten.) Immerhin dürfte die Verschiedenheit der Artikel, der schwachen und starken Formen, die Freiheit der Wortstellung das Deutsche zu einer der schwersten unter den Cultursprachen machen.
86 *