Heft 
(1.1.2019) 05
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G. van Muyden.

Die große Zahl der Vor- und Nachsilben, die völlig freie Anwendung derselben, sowie die ziem­lich unbegrenzte Freiheit der Wörter-Zusammen- setzung gestattet überhaupt eine Genauigkeit und Präcision der Ausdrucksweise, die den denkenden Ausländer in Erstaunen setzt. Einige Beispiele werden dies klar machen. Wir sagen:Der Hund blickt zu seinem Herrn hinauf" oderempor", wo­mit wir nicht nur das aus der geringeren Größe sich ergebende Hinaufblicken, sondern auch den in dem Emporschauen des Thieres zu seinem Herrn liegenden seelischen Zustand desselben trefflich ver­anschaulichen. Wie drückt dies der Franzose aus? Er sagt einfach: ll/6 ollion roguräo oder eontsinpls 80N ninitro, der Hund sieht oder schaut seinen Herrn an. Will er dasselbe ausdrücken, wie der deutsche Satz, so muß er zu einer langen Umschrei­bung greifen.Sein Geld Verfahren" heißt bei den Franzosen ääpßnssr son g,rA6nt on voitnrss,die Ratte fraß sich in den Käse hinein", Io rat par- visnt, a tores äo ronA6r, a 86 1oA6r äan8 Io tro- innAö;wir haben ihn bald hinausgegrault", non« 80INN163 parv6nn8 a Io tairo ä.6KN6rpir L tor66 ä6 Ini raoontor äos Iii8toir68 InAubros;morgen will ich ausreiten, aussahren", je 8ortirai äornain L ollo- val, 6N voitnro;wir segeln morgen ab", NON8 ^arton8 (non8 ni6tton8 a ln voils) cksmain;ich ru­derte mich nach der Insel hinaus", fattoiß-nm l'ilo n ln rnrne;ich habe ihn unter den Tisch getrunken", ,j6 Ini ai kait boire zn8gn'n 66 gn'il ait roulo 80 N 8 ln tnblb re.

Aus diesen Beispielen, die wir in's Unendliche vermehren könnten, ergiebt sich, dächten wir, aufs Deutlichste, wie viel genauer und anschaulicher*) die deutsche Sprache in der Bezeichnung der Tätig­keiten ist.

Der französischen Sprache weit überlegen ist gleichfalls die deutsche in Bezug aus die Zusam­mensetzung von Wörtern. Das Französische kennt streng genommen nur unechte Composita, wie porte-monrmib, attrape-niAanck, noeroelio-ooonr; dem­selben ganz fremd sind Wortverbindungen, wie steinalt, eisenhart, todtmüde, und ebenso die Ver­bindung eines Genitivs oder Dativs mit einem Nominativ oder Akkusativ, wie Reichskanzler, Für­stenwort, Schiffbau. Wie unbeholfen ist, um nur ein Beispiel herauszugreifen, die französische Über­setzung des Wortes Sägeschärfe-Maschine: nmolniw

*) Hier kann nur zugegeben werden, daß das Deutsche kürzer ist und dadurch eindringlicher wirkt, nicht aber, daß das Französische nicht ebenfalls anschaulich wäre. Ueber- dies giebt es gerade im Deutschen eine Reihe französischer (wie überhaupt fremder) Ausdrücke, die wir ihrerPräg­nanz" wegen, nicht etwa aus Vorliebe für das Fremde herübergenommen haben, z. B. reüssiren, debütiren, rekla- miren, dementiren, improvisiren, sich moquiren, garan- tiren u. s. f.

g. atkütor 168 86168 ! Doch ist in Bezug auf Wort­verbindungen die englische Sprache der deutschen namentlich in zwei Punkten entschieden überlegen. Der Engländer verbindet einen Eigennamen leichter mit einem gewöhnlichen Hauptwort, sowie ein Eigen­schaftswort viel häufiger mit einem Hauptwort. Er sagt z. B. London Journal; wir scheuen dagegen vor der Verbindung: Berlin-Zeitung, während wir ohne Weiteres Bismarck-Spende anwenden. Aus der Scheu vor der Verbindung eines Eigenschafts­wortes mit einem Nennwort aber entsprangen die berüchtigten Ausdrücke, wie reitende Artillerie-Ka­serne, marinirte Heringshandlung, neugeborene Kin­desleiche! Warum es nicht, englischen Vorbildern gemäß, heißen könnte: Reitartillerie-Kaserne, Ma- rinirthering-Handlung, Neugeborenkind-Leiche, ist uns nicht recht verständlich.

Unübertroffen ist auch das Deutsche wie das engverwandte Niederländische in der Betonung. Während die romanischen Sprachen eine beliebige Silbe, meist die vorletzte oder letzte, betonen, legt die deutsche Sprache logischerweise stets den Haupt­nachdruck ans die Stammsilbe bezw. bei Zusammen­setzungen auf diejenige Silbe, durch welche sich das betreffende Wort von anderen unterscheidet, aus die näher bezeichnende Silbe. Also Reichstag, Gerech­tigkeit, abtheilen. Leider ist dieses System nicht ganz konsequent durchgeführt. Es müßte z. B. heißen Abtheilung und nicht Abtheilung, unbändig und nicht unbändig, Jahrhundert und nicht Jahrhundert. Doch sind dies wenig belangreiche Ausnahmen, welche das schöne deutsche Betonungssystem kaum beeinträchtigen.

Wir erwähnten oben des großen Reich thums der deutschen Sprache. Damit soll aber nicht ge­sagt sein, die französische sei arm. Man braucht z. B. nur die Werke der neuen realistischen Schule in die Hand zu nehmen, um sich des Gegentheils zu überzeugen, und wer es unternähme, Zola's Ro­mane mit vollemVerständniß und Hingebung in's Deutsche zu übertragen, würde bald entmuthigt die Flinte in's Korn Wersen. Der Reichthum beider Sprachen liegt eben aus verschiedenen Gebieten. Beim Deutschen steckt er hauptsächlich in der unbegrenzten Bildungsfähigkeit, in den unzähligen Combinationen einer verhältnißmäßig geringen Zahl Stammwörter und Vor- und Nachsilben; das Französische ist da­gegen reicher an Ausdrücken für Gegenstände des praktischen Lebens, was schon daraus hervorgeht, daß das Deutsche von aus dem Französischen ent­nommenen Fremdwörtern wimmelt, die sich absolut nicht übersetzen lassen. Man versuche beispielsweise die fremden Ausdrücke aus einer Speisekarte*) oder

*) Der Kamps gegen hie Fremdwörter (vornehmlich gegen die französischen), sowie die Verdeutschung unserer