Goethe und Gall.
wälzung von höchster Bedeutung ist, dass mit ihr eine neue Psychologie und eine neue Gehirnphysiologie gegeben ist, das wurde ihm wahrscheinlich nicht klar. Man muss bedenken, dass Goethe doch nur oberflächlich mit der Sache bekannt wurde, und dass Gall selbst 1805 und 1807 noch nicht so wie später seine Anschauungen herausgearbeitet hatte. Wahre Einsicht hätte Goethen nur Galls grosses Werk geben können, und das hat er offenbar nie gesehen. Man könnte sagen, dass Goethes Scharfsinn von selbst die von Gall übernommenen Gedanken hätte weiterführen sollen. Aber Goethe war im J. 1805 56 Jahre alt, und es wäre ungerecht, zu verlangen, dass sein Geist noch damals neue Wege hätte einschlagen und zu den vielen Aufgaben, die er übernommen hatte, neue hinzufügen sollen. Wohl wäre es anders gekommen, wenn statt des Lavaterschen Unsinnes dem jungen Goethe Galls Lehre entgegengebracht worden wäre, und es ist recht Schade, dass es nicht geschehen ist. Aber den wirklichen Verhältnissen gegenüber darf man sich nicht darüber wundern, dass eine tiefgehende und andauernde Theilnahme Goethes nicht zu erreichen war. Es ist genug, dass der alternde Mann mit offenem Sinne und mit Wohlwollen das Neue aufnahm. Goethe übertraf auch diesmal die Anderen, denn er zeigte sich auch hier als scharfen Beobachter und als redlichen Mann.'°)
©