abgelenkt. Schon 1822 schreibt sie: „Ich liebe Gedanken, Denken und Einfälle immer mehr; sie ergötzen mich und stärken mich ungemein, sie heilen und flicken mich aus." Aber sie war eitel auf ihre intellektuelle Anziehungskraft, daß sie ein „Menschenmagnet" war, und daß (was den besonderen Stolz der gesellschaftlich Vorurteilslosen ausmachte) „alle Klassen, alle Menschen zu mir reden". Sie selbst hat für diesen Egoismus, für diese Eitelkeit mit ihrem Besten gezahlt: mit den Schmerzen, die sie von den Menschen erfuhr. Aber ihr Wesenskern, ihr Erbe aus dem Zeitalter der Aufklärung, das Kritische wurde mit den Jahren ihr bester Schutz. So kam es, daß Rahel aus einer „vortrefflichen Dienerin der Geselligkeit" sich zu einer „Meisterin der Gesellschaft" umformte, das heißt abkühlte. Und damit ist in zwei Worten auch der Unterschied zwischen dem Salon der Demoiselle Levin in der Jägerstraße 54 und dem der Frau von Varnhagen, Mauersiraße 36, gekennzeichnet.
Nach Rahels Tode behielt Varnhagen die Wohnung bei. „Da ist mein Mausoleum!" hätte er der Geschiedenen nachsprechen können, er, der zunächst nichts Besseres kannte als der Priester eines umfassenden Rahel- Kultus zu werden. Unmittelbar nach ihrem Tode teilte er „nur im Stillen" ein „Buch des Andenkens für Freunde" aus, das Rahels Persönlichkeit und geistige Hinterlassenschaft in Briefen und Aufzeichnungen enthielt und schon Ende des Jahres 1833 beinahe um das Dreifache vermehrt, der breiten Öffentlichkeit zugänglich gemacht wurde.
Erst jetzt tritt Varnhagen entscheidend hervor und konstituiert sich als ästhetische Macht, die von Gelehrten und Künstlern, darunter ersten Namen wie Alexander von Humboldt, als höchste Instanz für ihre Produktionen angerufen wird. So viel ihm Rahel gegeben — denn er war wesentlich der empfangende Teil - so dankbar er ihren Besitz empfand, besonders wenn er auf Reisen ihr Bild im Rosenrot der Ferne sah — über das Ungleichartige dieser Ehe kam er doch im Innersten nie ganz hinweg. Wie sein
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