Stechlin.
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sollte die Rede sein. Freilich, der ist kein Pyrotechniker."
„Nein," lachte Woldemar, „das ist er nicht. Aber als einen Aeronauten kann ich ihn beinahe gelten lassen. Er ist so recht ein Aufsteigemensch, einer aus der wirklichen Obersphäre, genau von daher, wo die Hoffnung zu Haus ist und die Liebe."
„Ja," lachte die Baronin, „die Hoffnung und die Liebe! Wo bleibt aber das Dritte? Das fehlt hier immer. Da müssen S' Zu uns kommen. Wir haben noch davon und wissen wenigstens, was wir glauben sollen."
„Ja, sollen."
„Sollen, das ist die Hauptsache. Wenn man weiß, was man soll, so find't sich's schon. Aber wo das Sollen fehlt, da fehlt auch das Wollen. Es ist halt a Glück, daß wir Nom haben und den heiligen Vater."
„Ach," sagte Melusine, „wer's Ihnen glaubt, Baronin! Aber lassen wir die heiklen Fragen und hören wir lieber von dem, den ich — ich bin beschämt darüber — in so wenig verbindlicher Weise vergessen konnte, von unserm Wundermann mit der Studentenliebe, von dem Säulenheiligen, der reinen Herzens ist, und vor allem von dem Schöpfer und Nährvater unsers Freundes Stechlin. Lll bien, was ist es mit ihm? ,An ihren Früchten sollt ihr sie erkennen/ — das könnt' uns beinahe genügen. Aber ich bin doch für ein Weiteres. Und so denn attention au seu. Unser Freund Stechlin hat das Wort."
„Ja, unser Freund Stechlin hat das Wort," wiederholte Woldemar, „so sagen Sie gütigst, Frau Gräfin. Aber dem Nachkommen ist nicht so leicht. Vorhin, da war ich im Zuge. Jetzt wieder damit anfangen, das hat seine Schwierigkeiten. Und dann erwarten die Damen immer eine Liebesgeschichte, selbst wenn eS sich um einen Mann handelt, den ich, was diese Dinge betrifft, so wenig versprechend eingeführt habe. Sie gehen also, wie heute schon mehrfach (ich erinnere nur an das Eierhäuschen) einer grausamen Enttäuschung entgegen."
„Keine Ausflüchte!"
„Nun, so sei's denn. Ich will es aber auf einem Umwege versuchen und Ihnen einfach schildern, wie uieine letzte Begegnung mit Lorenzen verlief. Er war, als ich bei ihm eintrat, in ersichtlich großer Erregung und zwar über ein Büchelchen, das er in Händen hielt."
„Und ich will raten, was es war," unterbrach Melusine.
„Nun?"
„Ein Buch von Tolstoj. Etwas mit viel Opfer und Entsagung. Anpreisung von Askese."
„Sie sind auf dem richtigen Wege, Gräfin, nur nicht geographisch. Es handelt sich nämlich nicht östlich um einen Russen, sondern westlich um einen Portugiesen."
„Um einen Portugiesen," lachte die Baronin. „O, ich kenne welche. Sie sind alle so klein und gelblich. Und einer fand einen Seeweg. Freilich schon lange her. Ist es nicht so?"
„Gewiß, Frau Baronin, es ist so. Nur der, um den es sich hier handelt, das ist keiner mit einem Seeweg, sondern bloß ein Dichter."
„Ach, dessen erinnere ich mich auch, ja ich habe sogar seinen Namen auf der Zunge. Mit einem großen C fing er an. Aber Calderon war es nicht."
„Nein, Calderon nicht, — der wohnte nebenan. Und es war überhaupt kein alter, sondern ein neuer. Und er hieß Joao de Deus."
„Joao de Deus," wiederholte die Gräfin. „Schon der Name. Sonderbar. Und was war es mit dem?"
„Ja, was war es mit dem? Dieselbe Frage that ich auch, und ich habe nicht vergessen, was Lorenzen mir antwortete: /Dieser Joao de Deus/ so etwa waren seine Worte, ,war das, was ich sein möchte, wonach ich suche, seit ich zu leben, wirklich zu leben angefangen, und wovon es beständig draußen in der Welt heißt, es gäbe dergleichen nicht mehr. Aber es giebt dergleichen noch, es muß es geben oder doch wieder geben. Unsre ganze Gesellschaft (und nun gar erst das, was sich im besonderen so nennt) ist aufgebaut auf dem Ich. Das ist ihr Fluch, und daran muß sie zu Grunde gehen. Die zehn Gebote, das war der Alte Bund; der neue Bund aber hat ein andres Gebot, und das heißt: Und du hättest der Liebe nicht. . /
„So etwa sprach er und noch manches andre, bis ich ihn unterbrach. ,Abec, Lorenzen, das sind Allgemeinheiten. Sie wollten mir Persönliches von Joao de Deus erzählen. Was ist es mit dem? Wer war er? Lebt er? Oder ist er tot?'
„,Er ist tot, aber seit kurzem erst, und von seinem Tode spricht das kleine Heft hier. Höre, was da steht: „Und als er nun tot war, da gab
es eine Landestrauer, und alle Schulen in der Hauptstadt waren geschlossen, und die Minister und die Leute vom Hof und die Gelehrten und die Handwerker, alles folgte dem Sarge dicht gedrängt, und die Fabrikarbeiterinnen hoben schluchzend ihre Kinder in die Höh' und zeigten auf den Toten und sagten: On 8anw, an Laiwo. Und sie thaten so und sagten so, weil er für die Armen gelebt hatte und nicht für sich/""
„Das ist schön," sagte Melusine.
„Ja, das ist schön," wiederholte Woldemar, „und ich darf hinzusetzen, in dieser Geschichte haben Sie nicht bloß den Joao de Deus, sondern auch meinen Freund Lorenzen. Er ist vielleicht nicht ganz wie sein Ideal. Aber Liebe giebt Ebenbürtigkeit."
„Und so schlag' ich denn vor," sagte die Baronin, „daß wir den mit dem C, dessen Name mir übrigens gleich einfallen wird, vorläufig absetzen und statt seiner den neuen mit dem D leben lassen. Und natürlich unsern Lorenzen dazu."
„Ja, leben lassen," lachte Woldemar. „Aber worin? Dos fours äo keto..." und er wies auf das Eierhäuschen zurück.
„In dieser Notlage wollen wir uns helfen, so gut es geht, und uns statt andrer Beschwörung einfach die Hände reichen, selbstverständlich über Kreuz, hier erst Stechlin und Armgard und dann Melusine und ich."