Aus Zeit und Leben.
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gelehrt hat, nicht als ein einfaches, sondern als ein zusammengesetztes Wesen, das als Produkt bestimmter Verhältnisse sich dem Blick stets nur in dem Lichte dieser Verhältnisse und unter der Einwirkung einer ganz bestimmten Familien- und Zeitperspektive darstellt. Damit entfällt die Frage nach dem Gut oder Böse der Charaktere, der Dichter ist ebensowenig ein Sittenrichter wie der Historiker, er giebt wie dieser ein Bild der Wirklichkeit, und beide folgen dabei bestimmten Gesetzen, die für den Dichter wesentlich Gesetze der künstlerischen Darstellung sind.
Unglücklich gewählt erscheint in dieser Hinsicht die Bezeichnung „naturalistischer Roman", denn mit dem Naturalismus hat die erwähnte künstlerische Methode nichts gemein, wie denn auch Zola selbst einmal vorgeschlagen hat, man möge das Wort „naturalistisch" durch „exakt" ersetzen und womöglich auf die Bezeichnung „Roman" für die von der Wirklichkeitsschilderling ausgehende moderne Prosa- Erzählung verzichten. Das Wesentliche der neuen Darstellungsweise ist nach Zola das Unpersönliche, und gerade diese in der Eigenart des naturalistischen Romans liegende Eigenschaft, sagt er, habe dazu geführt, ihm in seinen neuesten und machtvollsten Erscheinungen den Vorwurf der Jmmoralität zuznziehen. Der Romanschriftsteller, so meint er, sei lediglich Urkundsperson, er müsse es sich versageil, selbst zu urteilen oder Schlüsse zu ziehen. Einen Chemiker, der gegen den Stickstoff wegen seiner lebensbedrohenden Wirkung Partei nehmen oder aus entgegengesetzten Gründen eine besondere Vorliebe für den Sauerstoff hege, könne man sich nicht wohl vorstellen. Ein Romanschriftsteller aber, der das Bedürfnis empfinde, sich gegen das Laster zu empören und der Tugend Beifall zu spenden, befinde sich in ganz ähnlicher Lage; er entkleide, weil sein Hervortreten ebenso störend wie überflüssig sei, die von ihm beigebrachten Beweismittel ihrer Wirkung. Sein Werk verliere an Kraft, es sei nicht mehr ein aus dem Blocke der Wirklichkeit heransgehauenes Marmorgebilde, sondern ein erkünsteltes Material, das als persönliche Anschauung des Autors deshalb kaum beachtenswert erscheinen könne, weil eben persönliche Meinungen Vorurteilen und Jrrtümern unterworfen bleiben.
Thatsächlich steht gleichwohl Zola nicht immer in vollein Einklang mit seinen Theorien. Zuweilen geht er, ohne daß seine „Dokumente" ihm Anlaß dazu böten, der Aesthetik des Häßlichen so weit.nach, daß er den Schein des Chemikers, der eine gewisse Vorliebe für den Stickstoff hat, nicht ganz von sich ablenkeu kann. Bei der Romanfolge „Die Rongon- Macqnart" trifft auch die Voraussetzung nicht zu, die er ihnen geben will, daß sie die Verhältnisse Frankreichs unter dem zweiten Kaiserreich schildern sollen; was sie zur Darstellung bringen, sind wesentlich die Verhältnisse der nach- napoleonischen Zeit, die Arbeiternnrnhen ini Creuzot in den achtziger Jahren (Germinal), das Aufkommen der großen Pariser Warenhäuser (Au Bonheur des Dames), die Pleinairbewegung in der Malerei (L'Oeuvre), der Bontonx- handel (L'Argent) und so weiter. Alle diese Schattenseiten vermögen aber die glänzenden Vorzüge der Zolaschen Romandichtungen nicht zu beeinträchtigen. Auf seiner höchsten Höhe zeigt sich der Hanptvertreter des modernen naturalistischen Romans in den Werken, die er der Serie der „Rougon-Macquart" hat folgen lassen, zumal sein „Rom" ist ein großartig angelegtes Kunstwerk, das uns in mächtig ergreifender Weise die drei Kulturbilder der ewigen Stadt in der antiken, der mittelalterlichen und modernen Beleuchtung vor Augen führt. Nicht minder bedeutend scheint Zolas neuestes Werk „Paris" zu werden, das eben in der Halbmonatsschrift „Aus fremden Zungen" in deutscher Ausgabe im Erscheinen begriffen ist. L. H.
Wilder aus (Lhina.
(Siehe die Abbildungen Seite 314—316.)
HAort Arthur, die während des japanisch-chinesischen Krieges heiß umstrittene und neuerdings, seit der Besetzung durch die Russen, vielgenannte Hafenstadt an der Südspitze der Halbinsel Kuangtung, bildet mit dem gegenüberliegenden, nur 80 Seemeilen entfernten Kriegshafen Wei-hai-wei eine starke Position zum Schutze der Mündung des Peihoslusses, sowie der Provinzialhanptstadt Tientsin und der chinesischen Reichshauptstadt Peking. Durch einen Kanal steht der zweieinhalb Kilometer lange und anderthalb Kilometer breite Hafen mit einer Bai in Verbindung, deren Oeffnung dreizehn Kilometer beträgt. Ein auf den Höhen errichteter Kranz von Forts ist mit Kruppschen Geschützen schwersten Kalibers ausgerüstet. Dahinter erheben sich Kasernen und Magazine. Vor einem Jahrzehnt noch ein elendes Fischerdorf, zählt Port Arthur — von den Chinesen Liuschunkou genannt — heute gegen 5000 Einwohner. Am 24. November 1894 wurde die Festung von den Japanern unter General Oyama erstürmt und am 14. Februar 1895 auch Wei-hai-wei genommen, nachdem die Schiffe der chinesischen Kriegsflotte teils durch Torpedoboote zerstört, teils erobert worden waren. Beide Häfen wurden nach dem Friedensschlüsse auf das stärkste befestigt und mit allen Einrichtungen der modernen Befestignngs- und Kriegskunst versehen. Telegraphische und telephonische Leitungen verbinden in Port Arthur alle Anstalten und Befestigungen; elektrisches Licht erhellt den Eingang zum Hafen, dessen Leuchtturm auf dreißig Kilometer Weite sein Licht entsendet.
Überführung der -Lerche des Nürsten Alexander von Bulgarien in das neu erbaute Mausoleum M Sofia.
(Siehe die Abbildung auf Seite 318 und 319.)
AMnter .großem Gepränge erfolgte am 15. Januar in Sofia die Ueberführung der Leiche des Fürsten Alexander von Bulgarien aus der alten Georgskapelle, wo seine sterblichen Ueberreste bisher geruht hatten, in das neu erbaute Mausoleum. Hinter dem auf einer sechsspännigen Geschützlafette ruhenden Sarg schritten Fürst Ferdinand, Prinz Philipp von Kobnrg, Ministerpräsident Stoilow mit dem gesamten Kabinett, der englische diplomatische Agent Elliot in Vertretung der Königin Viktoria, der langjährige Kabinettschef des Fürsten Alexander, Kabinettsrat Menges ans Darmstadt, alle höheren Militär- und Zivilbeamten, die Stadtvertretnng, zahlreiche Abordnungen, alle dienstfreien Offiziere und die Veteranen aus dem serbisch-bulgarischen Kriege einher. Die Witwe des Fürsten Alexander, Gräfin Hartenau, wohnte der Einsegnung der Leiche in der Georgskapelle und sodann der Beisetzung im Mausoleum bei. Auf speziellen Befehl des Fürsten Ferdinand nahm der imposante Trauerzug seinen Weg durch den Hof des Palais, auf dessen Balkon die Fürstin Marie Luise mit den Prinzen Boris und Cyrill, sowie die Herzogin Clementine von Koburg Platz genommen hatten. Stabsoffiziere trugen den Sarg in den kleinen, kaum zwanzig Personen fassenden Jnnenraum des Mausoleums, eines zierlichen, ans weißem Marmor hergestellten Kuppelbaues. Nachdem die Einsegnung der Leiche durch den deutschen evangelischen Pastor stattgefunden hatte, wurde der in die nationale Trikolore gehüllte Sarg unter Kanonenschüssen in die Gruft gesenkt.
Ueber Land und Meer. Jll. Okt.-Hefie. XIV. 8.
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