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Ueöer Land und Meer.
Schwestern Dagmar und Thyra zu sprechen, so hätt' ich vielleicht wegen Dänensreundlichkeit heut abend noch ein Duell auszusechten. Was mir doch unbequem wäre. Besser ist besser."
Der alte Barby nickte vergnüglich.
„Ja, Herr Gras," fuhr Woldemar fort, „ich komme, mich von Ihnen und den Damen zu verabschieden, aber ich komme vor allem auch, um mich in zwölfter Stunde noch nach Möglichkeit zu informieren. In dem Augenblick, wo der gänzlich ignorante Kandidatus in seinen Frack fährt, guckt er — so was soll Vorkommen — noch einmal ins Corpus juris und liest, sagen wir Zehn Zeilen, und gerad' über diese wird er nachher gefragt und sieht sich gerettet. Dergleichen könnte mir doch auch Vorbehalten sein. Sie waren lange
drüben und die Damen ebenso. Aus was muß ich achten, was vermeiden, was thun? Vor allem, was muß ich sehn und was nicht sehn? Das letztere vielleicht das Wichtigste von allem."
„Gewiß, lieber Stechlin. Aber ehe wir ansangen, rücken Sie hier ein und gönnen Sie sich eine Tasse Thee. Freilich, daß Sie den Thee würdigen werden, ist so gut wie ausgeschlossen; dazu sind Sie viel zu aufgeregt. Sie sind ja wie ein Wasserfall; ich erkenne Sie kaum wieder."
Woldemar wollte sich entschuldigen.
„Nur keine Entschuldigungen. Und am wenigsten über das. Alles ist heutzutage so nüchtern, daß ich immer froh bin, mal einer Aufregung zu begegnen; Aufregung kleidet besser als Indifferenz, und jedenfalls ist sie interessanter. Was meinst du dazu, Melusine?"
„Papa schraubt mich. Ich werde mich aber hüten, zu antworten."
„Und so denn wieder zur Sache. Ja, lieber Stechlin, was thun, was sehn? Oder wie Sie ganz richtig bemerken, was nicht sehn? Ueberall etwas sehr Schwieriges. In Italien vertrödelt man die Zeit mit Bildern, in England mit Hinrichtungsblöcken. Sie haben drüben ganze Kollektionen davon. Also möglichst wenig Historisches. Und dann natürlich keine Kirchen, immer mit Ausnahme von Westminster. Ich glaube, was man so mit billiger Wendung ,Land und Leute' nennt, das ist und bleibt das Beste. Die Themse hinaus und hinunter, Nich- mond-Hill (auch jetzt noch, trotzdem wir schon November haben) und Werbekneipen und Dudelsacks- pfeiser. Und wenn Sie bei Passierung eines stillen Squares einem sogenannten,Straßenraffael' begegnen, dann stehen bleiben und zusehn, was das sonderbare Genie mit seiner linken und oft verkrüppelten Hand aus die breiten Straßensteine hinmalt. Denn diese Straßenraffaels haben immer nur eine linke Hand."
„Und was malt er?"
„Was? Das wechselt. Er ist im stände und zaubert Ihnen in zehn Minuten eine richtige Sixtina aufs Trottoir. Aber in der Regel ist er mehr Ruysdael oder Hobbema. Landschaften sind seine Force; dazu Seestücke. Die Klippe von Dover Hab' ich wohl zwanzigmal gesehn und über das Meer hin den zitternden Mondstrahl. Da haben Sie schon j
was zur Auswahl. Und nun fragen Sie Melusine. Die hat von London und Umgegend viel mehr gesehn als ich und weiß, glaub' ich, in Hampton-Court und Waltham-Abbey besser Bescheid als an der Oberspree, natürlich das Eierhäuschen ausgenommen. Und wenn Melusine versagen sollte, nun, so haben wir ja noch unsre Tochter Cordelia. Cordelia war damals freilich erst sechs oder doch nicht viel mehr. Aber Kindermund thut Wahrheit kund. Armgard, wie wär' es, wenn du dich unsers Freundes annähmest."
„Ich weiß nicht, Papa, ob Herr von Stechlin damit einverstanden ist oder auch nur sein kann. Vielleicht ging' es, wenn du nur nicht von meinen sechs Jahren gesprochen hättest. Aber so. Mit sechs Jahren hat man eben nichts erlebt, was, in den Augen andrer, des Erzählens wert wäre."
„Comtesse, gestatten Sie mir... die Dinge an sich sind gleichgültig. Alles Erlebte wird erst was durch den, der es erlebt."
„Ei," sagte Melusine. „So bin ich zum Erzählen noch mein Lebtag nicht ausgefordert worden. Nun wirst du sprechen müssen, Armgard."
„Und ich will auch, selbst auf die Gefahr hin einer Niederlage."
„Keine Vorreden, Armgard. Am wenigsten, wenn sie wie Selbstlob klingen."
„Also wir hatten damals eine alte Person im Hause, die schon bei Melusine Kindermuhme gewesen war, und hieß Susan. Ich liebte -sie sehr, denn sie hatte wie die meisten Irischen etwas ungemein Heiteres und Gütiges. Ich ging viel mit ihr im Hydepark spazieren, wohnten wir doch in der au seiner Nordseite sich hiuziehenden großen Straße. Hydepark erschien mir immer sehr schön. Aber weil es tagaus tagein dasselbe war, wollt' ich doch gern einmal was andres sehn, woraus Susan auch gleich einging, trotzdem es ihr eigentlich verboten war. ,Ei freilich, Comtesse', sagte sie, ,da wollen wir nach Martins le Grand.' Mas ist das?' fragte ich; aber statt aller Antwort gab sie mir nur ein kleines Mäntelchen um, denn es war schon Spätherbst, so etwa wie jetzt, und dunkelte auch schon. Aus dem, was dann kam, muß ich annehmen, daß es um die fünfte Stunde war. Und so brachen wir denn aus, unsre Straße hinunter, und weil an dem Parkgitter entlang lauter große Röhren gelegt waren, um hier neu zu kanalisieren, so sprang ich ans die Röhren hinauf, und Susan hielt mich an meinem linken Zeigefinger. So gingen wir, ich immer auf den Röhren oben, bis wir an eine Stelle kamen, wo der Park aufhörte. Hier war gerad' ein Droschkenstand, und Hafer und Häcksel lagen umher und zahllose Sperlinge dazwischen. In der Mitte von dem allem aberstand ein eiserner Brunnen. Aus den wies Susan hin und sagte: ,Uook at it, äoar ^rmZorä. llboro 8tooä llJburn-Ealloevm' Und wer so viel gestohlen hatte, wie gerad' ein Strick kostete, der wurde da gehängt."
„ Eine merkwürdige Kindermuhme," sagte Stechlin. „Und erschraken Sie nicht, Comtesse?"
„Nein, von Erschrecken, solange Susan bei mir war, war keine Rede. Sie hätte mich gegen eine Welt verteidigt."