Heft 
(1897) 09
Seite
370
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lieber Karls Gesicht huschte eine dunkle Nöte. Finster und gequält nagte er an seiner Lippe. Wieder eine lange, dumpfe, peinliche Pause. Endlich sagte er:Du bist ein Mann. Du trägst die Ver­antwortung schon selber"

Die volle!" Hubert reckte seine breite Brust.'

Aber das arme Weib"

Komm," sagte Hubert und erhob sich rasch. Ich muß heut noch zu ihr. Es ist allerlei Lite­rarisches gekommen. Das wollte sie mir sagen. Ich lass' es nämlich an ihre Adresse schicken wegen der Spürnase meiner Wirtin. Hör Johanna selber. Das darfst du mir nicht abschlagen."

Heut nicht. Sag's ihr erst. Vielleicht ist's ihr doch peinlich. Aber" er knöpfte den Ueber- Zieher Zuwir können wohl noch ein Stück zusammen gehn."

Unterwegs sie hatten noch eine ganze Strecke durch die Neustadt, ehe sie an die Augustusbi ticke kamen war Hubert liebenswürdig und gesprächig. Er regte, offenbar in dem Bestreben, den ersten pein­lichen Eindruck seines Berichts Zu verwischen, so viel neue und interessante Fragen an, daß Karls Ge­danken bald in andre Bahnen gerieten.

Endlich hatten sie die Brücke erreicht, unter deren gewaltigen Bogen der Strom breit und majestätisch dahinstoß. Zauberhaft spiegelte sich der Lichterglanz der Brücken, der Restaurants, der Villen und Straßen, die sich an den Ufern entlangzogen, in dem dunkeln, beweglichen Spiegel.

Gefesselt war Karl stehn geblieben. Das schwarze, ruhelose, lebendige und doch unheimlich stumme Un­geheuer erschien ihm wie ein Niese, der unaufhaltsam und unwiderstehlich einem fernen Ziel entgegeueilt.

Da hörte er Huberts Stimme neben sich.

Den Hab' ich auch mal klein gesehn . . . Sand, Geröll, dazwischen ein kümmerlicher Wasserarm, lind dann waren auch eines Tages die Hungersteine da."

Hungersteine? Das klingt ja ganz unheimlich."

Sind auch unheimliche Gesellen. Und für mich ist ihre Bekanntschaft noch mit so allerlei Umstanden verknüpft"

Er schüttelte sich, als liefe ihm ein Schauer über den Rücken. Der Wind pfiff scharf und schneidend über den Fluß hin. Sie gingen schneller Weiler, Mn in den Schutz der Häuser zu kommen.

Karl war neugierig geworden, und als Hubert das Kapitel, das er eben berührt hatte, nicht weiter verfolgen zu wollen schien, fragte er geradezu, was es für eine Bewandtnis damit habe.

Es sinh Felsen, die bei besonders niedrigem Wasserstande ans dein Flußbett zum Vorschein kommen. Das Volk fürchtet sie abergläubisch. Sie sind die traurigen Begleiter von Dürre, Hungersnot, Viehsterben."

Und du hast sie erlebt?"

Jawohl. Mein Vater hatte ein kleines Gut in Pacht, in der Nähe von Riesa. Und da haben wir Kinder in regenlosen Sommern Zittern gelernt vor dem Gespenst der Hungersteine."

Das kann ich mir denken."

Vielleicht doch nicht ganz. Du bist in einem ehrbaren Psarrhause groß geworden. Bei uns aber war der Teufel los, wenn eine Mißernte drohte. Ob wir nun brav waren oder nicht, Schläge gab's doch, hungern mußten wir doch. Da schoß denn die Bestie, die in uns allen steckt, gut ins Kraut. Jeder suchte Zu ergattern, was er ergattern konnte, sonst ging er leer aus. Auf diese Weise wird dir vielleicht mancher Charakterzug an mir verständlich," schloß er sarkastisch lächelnd.

Jawohl," murmelte Karl und dachte an Johanna.

Der furchtbare Sommer von dreiundsiebzig kam. Das Gras verdorrte, die Erde barst in großen Sprüngen. Wir schlachteten unser bißchen Vieh. Mein Vater schalt und fluchte von früh bis spät. Meine Mutter weinte. Wir Buben drückten uns draußen herum; dem Vater wagte niemand unter die Augen zu kommen.

Und dabei erbarmungslos blau der Himmel jeden Morgen, und die Elbe von Tag zu Tag kleiner...

Ich hatte eine Leidenschaft: das Lesen.

Es war mein Schmerzensstiller. Wie ein Morphiumsüchtiger für sein geliebtes Gift, hätt' ich meine Seele hingegeben für das erbärmlichste Lese- sutter.

Eines Tages am zwanzigsten August war's, ich vergesst ihn nie! überraschte ich meine Schwester Anna auf dem leerer: Heuboden über einem Buche. Ein alter Kalender war's, auf dem Umschlag ein grober Holzschnitt: ,Andreas Hofers Abschied'.

Ich stürzte mich aus sie, nur ihn ihr zu ent­reißen. Wir rangen. Die kleine schwächliche Anne, mein Liebling, setzte sich verzweifelt zur Wehre. Keiris dachte an die Bodenluke. Aus einmal lag sie unten. Aber sie schrie nicht. Still und blaß blieb sie liegen.

Vielleicht ist sie tot, dachte ich. Entsetzen kämpfte in mir mit einem fast wahnsinnigen Ent­zücken über meinen Raub. Ich rannte wie gepeitscht davon, einem Versteck zu, dicht bei der Elbe. Da starrte mir aus einmal etwas entgegen, was ich noch nie gesehn hatte. Auf dem großen Felsen, der seit gestern vorn Wasser sreigelegt war, stand irr verwaschenen Buchstaben das Menetekel: ,Wenn Ihr mich wiedersehet, werdet Ihr weinen?"

Karl Wedekind fühlte, daß es ihm eisig über den Rücken kroch.

Und deine Schwester?" fragte er, nachdem sie eirr Stück schweigend nebeneinander hergeschritten waren.

Sie hat lange krank gelegen und ist jung ge­storben. Aber, siehst du selbst wenn ich sie tot gesunden hätte, als ich mich abends nach Hause stahl Neue hält' ich nicht fühlen können. Das Erreichte, die glühenden neuen Eindrücke von kühnen Thaten, von Aufopferung und tragischem Tod, das war alles so viel größer als unser häusliches Elend, als mein bißchen Schuld gegen das kleine Ding, das mich hindern wollte, zu nehmen, was mir, dem Klügeren, dem Stärkeren, znkam ... In der Nacht