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Die Kungersteine.
Hab' ich zum erstenmal gefühlt, daß ein Dichter in mir steckt.
„Siehst du, Karl Wedekind, und seitdem weiß ich: wir alle haben unsre Hungersteine. Hier drinnen in unserm tiessten Wesen, da liegen die Härten und Schroffheiten, von denen wir in guten Tagen nichts wissen.
„Aber laß einmal die große Dürre kommen, die Not, die Verzweiflung. Dann behüte Gott uns vor den Hungersteinen."
Hubert Schwarz blieb stehn und reichte Karl Wedekind die Hand.
„So, du mußt jetzt liuks einbiegen. Ich geh' geradeaus. Also ich grüße Johanna, und du kommst bald einmal."
Karl nickte mechanisch, und sie trennten sich.
Nach einigen Tagen erhielt Karl eine Postkarte von Hubert. Johanna sreue sich sehr aus ihn; er möge doch bald einmal zu ihr gehn, des Abends, wo sie freie Zeit habe.
Wie Karl schon neulich erfahren, hatte sie mit dem Rest ihres kleinen Vermögens eine Papier- und Schreibmaterialienhandlung in der Marienstraße erworben, die hauptsächlich durch ein paar Schulen in der Nachbarschaft lebhaften Umsatz hatte. Sie lebte leidlich gut, wenigstens ohne dringende Sorgen. Freilich kam sie den ganzen Tag nicht zur Ruhe. Die Kunden, oer Haushalt, der lebhafte kleine Bube, oen sie nicht aus den Augen lassen durfte, das alles verlangte beständig ihre Aufmerksamkeit.
„Aber du kennst sie ja," hatte Hubert gemeint. „Das ist ihr gerade recht. Je mehr an ihr herumzerren, desto zufriedener fühlt sie sich."
Eines Tages — nachdem er's eine Weile von sich geschoben hatte — machte Karl Wedekind sich wirklich aus den Weg nach der Marienstraße. Es war nach sieben Uhr und noch das volle Großstadtleben in den Straßen. Die Arbeiter strömten aus den Werkstätten, die Speisehäuser, Vergnügungslokale, Theater stillten sich. Was sich den Tag über hart geplagt und gehetzt hatte, das suchte in ein paar Abendstunden dem Leben eine heitere Seite abzngewinnen, die erschöpften Nerven durch scharfe Reizmittel aufzupeitschen, Mühe und Sorgen in wohlfeilen Genüssen Zu vergessen.
Unruhig und beklommen ging Karl zwischen all den eiligen Menschen dahin, mit zögernden Schritten, je näher er seinem Ziele kam.
Ein paarmal reckte er sich, als wär' ihm die Brust zu eng. Seine erste Liebe. . . und so —!
Ein seltsames Wiedersehn. Er hätte es ihr gern erspart. Und wer weiß, ob sie sich wirklich freute, ob Hubert nicht ein Machtwort gesprochen hatte, ehe sie sich dazu verstanden hatte, Karl zu sehn.
Nun stand er vor dem kleinen Laden, zu dem ein paar Stufen hiuaufsührten. Die Glasthür war zur Hälfte mit einer undurchsichtigen bunten Gardine verhängt.
Er versuchte, darüber hinweg einen Blick in das Innere des kleinen Raumes zu thun. Aber die Oberteile einiger Schränke und Repositorien, die er
zu übersehn vermochte, befriedigten seine unruhige Neugier nicht.
Es fehlte noch eine Viertelstunde an acht, dann wurde vermutlich das Geschäft geschlossen. Womit sollte er die Zeit totschlagend Er stand eine ganze Weile vor dem Schaufenster und sah sich den billigen Tand an, der, nett und geschmackvoll geordnet, die Käufer heranlocken sollte. Dann trat er mit einem plötzlichen Entschluß ein. Die Thürklingel meldete ihn mit gellendem Klang.
Es war gerade ziemlich viel zu thun. Ein halb Dutzend Leute standen und warteten. Johanna hatte nicht einmal Zeit, den Neuangekommenen zu beachten. Er blieb im Hintergründe stehn, und sah ihr zu.
Ruhig und ernst bewegte sie sich hin und her hinter dem Ladentisch, bückte sich oder langte empor, öffnete und schloß Fächer und Kästen, alles ohne Hast und Uebereilung, mit einer schönen, stillen Sicherheit, einer sanften, Weichen Grazie, die dem Auge wohlthat.
Dann hörte er auch ihre Stimme wieder, und die kurzen, geschäftlichen Fragen und Antworten klangen aus ihrem Munde nicht einmal trivial. Immer lag das Interesse, das sie der einfachsten Sache entgegenbrachte, ihr Wunsch, die Leute zu befriedigen, ihre persönliche Liebenswürdigkeit darin und erhob alles. Er glaubte und verstand es wohl, daß sie eifrigen Zuspruch hatte, und daß besonders die Schulkinder ihr gern alle ihre Groschen für Federn und Hefte und Bleie und Zeichenpapier ins Haus trugen. Sie hatte so etwas Warmes, Mütterliches.
Ein wenig blaß sah sie aus und abgespannt in ihrem dunkeln Kleide, nachdem sie so den ganzen Tag auf den Füßen gewesen war. Das blonde Haar trug sie glatt gescheitelt, die schöne, hohe Stirn frei. Immer hatte er gefunden, daß sie der Hol- beinschen Madonna des Bürgermeisters Meyer gliche in ihrer schlichten, innigen Weiblichkeit. Diese Aehn- lichkeit war jetzt noch viel vollkommener geworden.
Ein kleiner Bursche in einem armseligen Wäms- lein hatte lange und unschlüssig in einem Stoß Bilderbogen gewühlt, die sie ihm vorgelegt. Nichts von der Neu-Nuppiner Herrlichkeit schien ihm würdig genug des Preises, den er krampfhaft mit den roten, schmutzigen Fingern umschlossen hielt.
Endlich wandte sich Johanna wieder an ihn. Sie beugte sich hinüber, strich ihm sanft über das struppige Haar und brachte durch freundliche Fragen heraus, daß es „Soldaten" und „der Kaiser" seien, wonach sein Herz stand.
„Sie, ein'Zimmermannsblei wollt' ich," brummte jetzt der Baß eines jungen, stämmigen Gesellen, der sich augenscheinlich zurückgesetzt fühlte gegen den kleinen Patrioten. „Ich steh' hier schon 'ne ganze Weile, Madam. So viel Zeit Hab' ich nicht."
Ruhig hob Johanna die dunkelgrauen Augen. „Es geht nach der Reihe," sagte sie; „der Kleine war eher da." Sie legte dem Gesellen das Gewünschte vor. Er wählte, kramte, schien sich so recht im Uebergewicht zu fühlen in seiner Breite und Muskelkraft dieser schmächtigen Frau gegenüber.