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Die Kungerlleine.
Er hatte sie beobachtet während Huberts Rede. I Eine stille, weltentrückte Verklärung hatte aus ihrer Stirn, über den gesenkten Augenlidern gelegen.
,Sie ahnt ja nichts/ dachte er, ,von dem tieferen Sinn seiner Worte? Auch Berghauer und die Tante nahmen sie ganz harmlos als allgemeine Betrachtungen.
Klares lustige Plaudereien störten ihn säst. Heut wollt' er nur sehen, hören, beobachten. Darüber war er allmählich ganz einsilbig geworden, und sein energisches, unvermutetes „Ja!" Zog ihm die erstaunten Blicke aller zu.
In Hubert erweckte dies Wort eine plötzliche, unliebsame Erinnerung. Wie ein dunkler Schatten tauchte es aus — aber es hatte keine Macht — schnell zerrann es wieder.
„Ich bin — um bei Ihrem Bilde zu bleiben — keine Freundin vom Bergsport," sagte Frau von Nienstedt ablehnend. „Und wenn so ein Tollkühner sich den Hals bricht — man liest das ja alle Augenblick in der Zeitung —, Hab' ich ihn beim besten Willen nicht so bedauern können wie Zum Beispiel einen ehrlichen Arbeiter, der in seinem Berus, sür Weib und Kind verunglückt ist."
Hubert zuckte die Achseln. ,Beschränkt!' dachte er verächtlich. Ms wenn unser Bergkraxeln nicht auch ehrliches Arbeiten wär'! Aber wie sollst du das verstehn!'
„Ich glaube, wir einigen uns nicht, gnädige Frau," sagte er, das Gespräch abbrechend. „Dafür will ich Ihnen aber das Recht zugestehn, mich gehörig auszulachen, wenn ich mir mal bei so 'ner Kletterpartie — bildlich — den Hals brechen sollte."
„Dummes Zeug!" schrie Berghauer und hielt Hubert sein Glas hin. „Auf einen glücklichen Ausstieg, Meister Hubertus!"
Von allen Seiten wurden ihm Pokale entgegengehalten. Auch seine Widersacherin war Weltdame genug, aus der Ferne ihr Glas gegen ihn Zu erheben.
Ganz zuletzt erst wagte er's, Lolo anzusehn. Wie ein Schwindel ergriff es ihn. Etwas war in diesen lebensprühenden Sternen wie: ,Wir beide, nicht wahr, wir beide finden den Weg da hinauf!'
In diesem Augenblick hob die Tante mit der ihr eignen Würde die Tafel auf.
Während des Kaffeetrinkens bewegte sich die kleine Gesellschaft Zwanglos in den schönen Räumen.
Klären hatte es längst das Herz abgedrückt, ihrem Freunde Karl, mit dem sie noch voriges Jahr Haschen und andre wilde Spiele gespielt hatte, ihre Meinung über Hubert auszusprechen.
„Also der ist Ihr Freund?" flüsterte sie, als sie beide allein im Zimmer zurückgeblieben waren.
Er nickte zerstreut. „Gefällt er Ihnen nicht?" fragte er, bloß aus Gutmütigkeit. Denn was diese Schwester über Hubert dachte, war ihm sehr gleichgültig.
„Gefallen?" Sie hob die vollen Schultern.
„ Ich weiß nicht... Aber interessant ist er! Riesig! Fabelhast!"
„So," sagte er trocken.
„Ich Hab' mal den Don Karlos gesehn. So
sieht er gerade aus. Bald wie: ,Hier liegen meine Reiche!' Und dann wieder: ,Königin, das Leben ist doch schön!'"
„Das letzte hat meines Wissens der Marquis Posa gesagt. Oder meinen Sie den vielleicht?"
„Pfui! Ich weiß ganz genau, was ich meine. Ich will auch bloß sagen: er hat so was Besonderes. So ä la Ritter Blaubart. Wissen Sie, mit dem Schlüssel: Und wie sie aufschließt, liegen da alle seine Zwölf toten Frauen."
Karl mußte lachen und wurde dann wieder sehr ernst. Diesem Kinde, das noch ganz voller Märchen steckte, war der unerbittliche Zug in Huberts Gesicht nicht entgangen. Jetzt machte sie ein paar Schritte nach der Tafel, auf der noch die Reste des Desserts standen.
„Die Lolo scheint sich gar nicht vor ihm gefürchtet zu haben," plauderte sie weiter. „Die mag solche Leute. Ich nicht."
Sie steckte eine gebrannte Mandel in den Mund und knabberte vergnügt darauf los. Dann vertiefte sie sich in die Prüfung der übrigen Süßigkeiten.
„Wenn das die Tante sieht!" warnte er.
„Gehn Sie nur!" flüsterte sie. „Sie haben nichts gesehn."
Er ging ins Nebenzimmer, das schweigsam dalag in seinem Hellen Lichtglanz. Schon glaubte er, es sei leer. Da sah er Charlotte in der Nähe des Fensters stehn — ganz allein.
Sie stand da wie ein schönes Bild träumerischer Versunkenheit, regungslos, den Kopf etwas gehoben, die Augen weitgeöffnet ins Leere gerichtet. Erst als Karl, dessen Schritte der weiche Teppich gedämpft hatte, dicht neben ihr war, schreckte sie Zusammen und sah ihm in das ehrliche, ein wenig blasse und ernste Gesicht.
Es siel ihr Wohl ein, daß sie ihm heut erst wenig Worte gegönnt hatte. Sie lächelte zerstreut. „Ach, Herr Doktor!" rief sie.
„Sie waren so in Gedanken, Fräulein Charlotte."
„Bloß müde. Ein bißchen abgespannt. Nach dem Wein, wissen Sie."
Sie fühlte sich durch seinen ernsten Blick bedrückt, wurde unruhig und suchte augenscheinlich nach einem Vorwand, das Tete-a-tete abzukürzen.
Vor acht Tagen hatte sie noch stundenlang freundschaftlich mit ihm geplaudert. Diese ganze Woche war er herumgegangen wie ein Kind vor Weihnachten.
„Fräulein Lolo," fragte er, „wie weit ist Ihr Bild?"
„Welches Bild?" Ihre Augen schweiften umher. Sie schien zu horchen.
„Ihr letztes. Von dem wir neulich sprachen."
„Ach so!" Eine plötzliche Lebhaftigkeit kam in ihr Gesicht, ihre Glieder, ihr ganzes Wesen. Sie war wie verwandelt. „Kommen Sie," ries sie, „ich Zeig's Ihnen."
Sie lief ihm fast voran, mit ihren schönen, leichten Bewegungen, die an Schwalbenflug erinnerten. Das letzte Zimmer in der Flucht lag nach Norden. Sie benutzte es gelegentlich zum Malen. Ihr eigentliches Reich war im Oberstock.