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Melier Land und Weer.
auf den Leim gelockt und daun ausgeschlachtet worden ist, oder ob noch zehn andre Möglichkeiten vorliegen.
Für Deutschland hat der Vorgang nicht praktisches, ^ sondern nur pathologisches Interesse. Daß die französische i Presse die Gelegenheit benutzen würde, um gegen uns zu Hetzen, war zu erwarten. Warum aber die französische Regierung sich so wenig Mir, um nicht zu sagen höchst zweideutig gegen das Deutsche Reich dabei benahm, ist weniger verständlich. Selbst wenn Dreyfus seine landesverräterischen Mitteilungen etwa einem russischen Agenten gemacht haben sollte, kann ans der amtlichen Veröffentlichung solcher Thatsachen wohl schwerlich gefolgert werden, daß dadurch die russisch-französische Freundschaft einen Riß erhalten würde. Zieht die französische Negierung diesen > Schluß, so bekundet sie dem politischen Freunde gegenüber eine Rücksicht, die dieser, indem er heute, nach sünfund- achtzig Jahren, keinerlei Bedenken trägt, kirchlich den Tag zu feiern, an dem Rußland von der Invasion der Gallier befreit wurde, nicht für erforderlich hält.
Wie über den Geschmack, läßt sich auch über das Ausmaß gegenseitiger Höflichkeiten nicht streiten. Wenn aber ein Unbeteiligter dabei Rippenstöße erhält, ist immerhin die Frage nicht unberechtigt, ob dieser, der internationalen Courtoisie zuliebe, dazu geduldig schweigen soll.
Daß zivilisierte wie auch unzivilisierte Staaten ein Interesse daran haben, politische und militärische Geheimnisse ihrer näheren oder entfernteren Nachbarn zu erfahren, ist nicht neu, sondern zu allen Zeiten so gewesen. Gegenwärtig hat sich, erleichtert durch die verbesserten Verkehrsverhältnisse und die vermehrten geschäftlichen wie persönlichen Beziehungen unter den Angehörigen der verschiedenen Staaten zu einander, die gegenseitige Auskundschaftung auf politischem wie militärischem Gebiet nur systematischer gestaltet ; sie wird von Zentralstellen geleitet, die je nach Bedarf und Gelegenheit an geeigneten Orten ihre Filialen errichten, durch deren Vermittlung das von Agenten gesammelte Material an die ersteren gelangt. Dabei ist die Regel, daß die Zentralstellen — mögen sie Kundschaftsoder Nachrichtenbureaus heißen oder einen andern Namen tragen — direkte Beziehungen zu den Agenten vermeiden.
Letztere sind durchweg mehr oder weniger zweifelhafte Ehrenmänner; sie bilden gewissermaße!: eine Zunft, die sich aus allen Klassen der Gesellschaft rekrutiert. Meist sind es formgewandte, mehrerer Sprachen kundige, oberflächlich gebildete und mit moralischen Defekten behaftete Leute, die in ihrem Stande Schisfbruch erlitten, jedoch Schliss und äußere Sitten genug bewahrt haben, um diejenige!:, die ihr Vorleben nicht kennen, leicht täuschen zu können. Es finden sich Abenteurer und politische Flüchtlinge darunter, deren dunkle Vergangenheit schwer zu er- ! Hellen ist, die als weitgereiste Männer, sozusagen mit allen Hunden gehetzt, eine Schärfung ihrer Sinne erworben ^ haben, mit denen ihnen auszuspüren und zu entdecke!: ge- ^ lingt, was ein Heer der besten Kriminalpolizisten nicht ^ ausfindig machen würde. Aber auch Personen niederer Herkunft, moralisch verkommene, geldgierige, vaterlandslose Subjekte, bieten sich für diesen oder jenen Zweck als Agenten an und wissen Nachrichten zu schaffen, die ihre weit feineren, pfiffigen und geriebenen Kollegen nicht erhalten konnten.
Es liegt auf der Hand, daß, wenn eine politische oder militärische Behörde als Organ der Regierung mit den Agenten direkt verhandeln wollte, sie auch genötigt wäre, die Mittel und Wege zu erörtern, respektive zu kontrollieren, welche jene zur Erlangung von Nachrichten anwenden. Darauf kann sich keine Behörde einlassen. Wie sich kein anständiger Mensch zur Ausübung aktiver Spionage hergeben oder einen andern dazu anleiten wird, auf welche Weise er durch Einbruch, Diebstahl oder Vertrauensbruch eine solche ausnben soll, so wird auch von keinem Beamten
^ gefordert werden können, daß er mit den zu solchen ^ Handlungen bereiten Personei: in amtliche Beziehungen tretei: soll.
Hiergegen sprechen aber nicht diese moralische!: Gründe allein. Die staatlichen Interessen verbieten es gleichfalls. Würde zun: Beispiel ein italienischer Agent in Frankreich als Spion ergriffen, überführt und wegen Landesverrats verurteilt, und wäre bei dieser Gelegenheit durch beim Verurteilten anfgefundene Schriftstücke erwiesen, daß er in: Dienst und Auftrag der italienische!: Regierung gehandelt hat, so käme diese dadurch in große Verlegenheitei:. Daß solche unter Umständen zu unerwünschten Komplikationen führen können, ist klar.
Nun pflegen geschickte Agenten sich persönlich meist mit großer Umsicht zu sichern und zun: Hanptteil der Arbeit, die gewöhnlich nur durch verbrecherische Handlungen beschafft werden kann, Helfershelfer zu benutzen, die, gut bezahlt, die Haut zu Markte tragen müssen. Darin aber liegt das Bedenkliche der Sache, daß die Relationei: des Agenten zun: Helfershelfer viel zu nahe und intime sind, um ihre gemeinsame Thätigkeit willkürlich trennen zu können.
Unwillkürlich wird man fragen: Wenn die Behörde mit den Agentei: nicht verkehrt, wie gelangt sie dann in den Besitz der von ihnen beschaffte!: Nachrichten? Der Weg ist sehr einfach. Die Vermittlung übernehmen die Organe der politische!: Polizei. Diese erhalten generelle oder spezielle Aufträge bezüglich der Gegenstände oder Fragen, über welche die Behörde Auskunft zu erhalten wünscht, und werden dabei mit den nötigen Geldmittel!: versehen. Wie letztere verwandt werden, welche Agenten die Kommissare der politischen Polizei in Thätigkeit setzen, welche Mittel und Wege jene dabei einschlagen, und welche Personen etwa sonst noch als Helfershelfer Mitwirken, eickzieht sich jeder Kontrolle oder Ueberwachung seitens der Behörde. Die Kommissare der politischen Polizei wirken eben ganz selbständig und müssen daher das Vertrauen der Behörde besitzen. Sie bringen dieser die vermittelten Nachrichten und haben damit ihre Mission erfüllt.
Da der Verkehr zwischen der Behörde und den Kommissaren der politischen Polizei der Regel nach ein mündlicher ist, auch letztere sich mit ihren Agenten aus schriftliche Auseinandersetzungen nicht einlassen, gehört es zu den Seltenheiten, daß bei Entdeckung fremder Spionage diese als Maßnahme einer auswärtigen Regierung bewiesen werden kann.
Wenn, wie oben gesagt, die Behörden mit den im Kundschaftsdienst benutzten Agenten direkte Beziehungen vermeiden, so giebt es aber auch Fälle, in denen sie eine Ausnahme gefahrlos machen können. Dies geschieht im Felde und namentlich im diplomatischen Dienst. Es giebt immer eine Anzahl gewandter und gebildeter Personen, die durch Namen und Familienbeziehnngen in den höchsten Kreisen der Gesellschaft Zutritt haben und sich bei unterrichteten Leuten in derselben Vertrauen erwerben. Ihre geselligen Talente, ihre Unbefangenheit in: Umgang erleichtern ihnen, oft Dinge zu erfahren, die dem amtlich beglaubigten Vertreter der fremden Macht verborgen bleiben. Solche Agenten sind in der Wahl ihrer Mittel oft recht weitherzig und nie ganz ungefährlich dem schönen Geschlecht; aber sie vermeiden weislich, bei ihrem Thun und Treiben sich mit der Kriminalbehörde in Konflikt zu bringen. Frankreich hat für diese Gattung der politischen Spionage zuweilen Damen verwandt, die, als Verwandte eines Mitglieds der Gesandtschaft in die Gesellschaft geführt, an diesen: oder jenem Hofe gute Dienste geleistet haben dürften. Selbstverständlich ist jede Regierung bemüht, die Manöver und Machenschaften fremder Staaten auf diesem Gebiet zu überwachen und den Verrat politischer wie militärischer Geheimnisse zu verhindern. Zn diesem Zweck pflegt, gleichfalls durch