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Uelier Land und Meer.
ein weniges überragt, andrerseits vom Nebengebäude überragt wird. Jedes Haus hat nun in der freien Feuermauer noch ein Fenster oder eine Luke, die nach dem Stadtthor Auslug gewährt. Jedes Haus sieht so schielend das Thor noch „schimmern", ohne daß die Linie doch zur Staffel würde. Dem Fremden werden diese Seitenluken als Verteidigungsvorsicht erklärt, dazu bestimmt, „für den Fall eines Straßenkampfes" auch aus den Häusern nach dem Thor hin schießen zu können (ein Vaubansches System — wohlgemerkt im Innern der Stadt — vor Erfindung der Feuerwaffe!). Viel menschlicher aber dürfte die Bauordnung einer weisen Regelung der „gemeinen Neugier" zuzuschreiben sein, wodurch jedem Haus und Stockwerk ohne Kostei: des Nachbars auch vor Erfindung der grünen Altleutefenster- spiegelchen die Möglichkeit eines Blickes die Straße hinab gewahrt blieb. Welche Eifersucht und Familienfeindschaft sonst durch die Anmaßung nachbarlich vorgebauter Häuser, Läden und Erker hervorgerusen werden mochte, davon geben die Städtechroniken und Straßenbilder des Mittelalters Beispiele genug. In Villingen, wo die „Müßiggänger", auch die amtlich als solche nicht eingetragene!: und in den: vornehmen, nach ihnen sich benennenden Klub der Stadt nicht eingezünfteten, recht zahlreich gewesen sein müssen, wo auch heutzutage noch die Mehrzahl der Eingeborenen ihr Alter als wohlversorgte Pfründner der Stadt und ihrer überreichen Stiftungen hinbringt, wäre es erklärlich, wenn das Recht des Auslugs zu ganz besonders vielseitiger Entwicklung gekommen wäre. In einer Nebenstraße des nach dem „Romeiasturin" zu gelegenen Stadtviertels, nahe jener gleich einem ausrangierten Schiff zun: dreistöckigen Wohnhaus verwandelten gotischen Kirche, befindet sich auch ein Bäckerhaus mit erkerartigem Ausbau in die Straße. Ai: der einen Seitenwand des neuerdings übertüuchten Erkers schaut aus der Mauer ein Gesicht, das wir, mein Begleiter und ich, zuerst für das Fragment eines Heiligenbildes hielten; nur die ausdruckslos aufgeschlagenen Augen des nach Gesichts- und Bartschnitt noch gotischen Kunstwerkes fielen uns auf, um so mehr, als der moderne Anstreicher frische Farbe aufgetragen hatte. Auf eine Frage erklärte aber die Bäckerin zu unsrer Ueberraschung, der Kopf bedeute für den Hausbesitzer ein Recht unbeschränkter Aussicht nach der Seite zu, umhin der Kopf blicke. In der That, von Erkern und Vorbauten war die nächste, aus Privathäusern, gleich dem unfern noch gotischen Stils, bestehende Nachbarschaft nach der angedeuteten Richtung hin frei. Noch auf ähnliche Köpfe in andern Straßen und Erkern wurde hingewiesen; wir fanden sie aber nur als Ornament barocker Fassaden und in ihrer etwaigen alten Bedeutung nicht mehr erkennbar. Unser Kopf aber schaute ungarinert aus der getünchten Blauer hervor.
Die deutsche Rechtssprache behandelt Fragen der nachbarlichen Aussichtsbeschränkung unter dem Namen des „Neidbaues". Neid heißt mitteldeutsch jede Feindseligkeit, nicht nur das Gefühl konkurrierenden Wunsches. Eine aussichtverderbende „spanische Wand", wie man heute sich ansdrückt, heißt vor dem mittelalterlichen Stadtgerichte „Neidmauer". Das Wort hat sich zum Glück in deutschen Darstellungen des römischen Servitutenrechts erhalten. Ein Rechtssymbol wie das Villinger dürften wir wohl in mittelalterlicher Sprache ein Neidsymbol, einen „Neidkopf" nennen. So würde der unerklärte Berliner Name seinerseits die glaubliche Erklärung finden. Schon dieses Namens wegen dürfte ein charakterloses Fassadengesicht unter die Rechtssymbole eingereiht werden; das rätselhafte Zungenrecken des Berliner Neidkopfes aber bietet einen Beweis mehr. Der heute vorhandene Rokokokopf muß in einer früheren Fassade des sechzehnten oder siebzehnten Jahrhunderts seinen Vorläufer gehabt habe::, schon weil er seit alter Zeit als „Wahrzeichen" gilt, zugleich mit einen: „Riesenknochen"
(Rolands- und Marktzeichenüberrest) an andern: Hause. Auch an und für sich dürfte das gröbliche Zungenrecken im Höfischei: Rokokogeschmack seinen Ursprung nicht haben. Das künstlerische Probten: ist auch von: Rokoko-Bildhauer nach Möglichkeit humorlos und linkisch gelöst. Viel eher dürfte ein gotischer Steinmetz schon das Stücklein zur Befriedigung des Bauherrn erdacht haben, der ihm aufgab, die Rechtssymbolik einer Jmtlo ueZutoria recht deutsch und deutlich zum Ausdruck zu bringen. Um den Stern in: Bädeker der Handwerksburschen nicht zu verlieren, wurde beim Abgang der alten Fassade der Neidkopf zeitgemäß pausbackig und mit seinem pretiösen Ausdruck doppelt komisch ersetzt. Wie der alte derbe dem neuen barocken Kopfe, so mußte die schlichte Kenntnis der deutschen Rechtssprache einer interessanten Historie mit modischen Hofiutriguen und Tafelservicen weichen. —
Rechte eines Nachbarn über den andern heißen Dienstbarkeiten (Servituten). Die Häuser pflegen älter zu werden als ihre Erbauer. Wollen sich Nachbarn also ärgern, so ist nichts geeigneter zum Prozeß als solche Gerechtigkeiten, deren es schon bei Aufstellung der römischen zwölf Tafeln ein ausführliches Register gab. Mit Weg-, Fahr-, Reit-, Rinnstein-, mit Mauer-, Zaun- und Heckenhaarspaltereien hat in aller Welt, seit es Privateigentum giebt, mancher alte Bauer sein Leben hingebracht. Fühlt ein solcher rechtsbewußter Grundbesitzer an irgend einer Stelle in Luft oder Erde seine Rechte berührt, sei's durch überhäugende Neste, Wasserausschütten oder dergleichen, so bleiben derlei Streitigkeiten aus der Frage des unvordenklichen Zustandes zu entscheiden. Bei Gräben, Mauern, Wegen ist verjährter Besitz unschwer uachzuweisen. Bei „unständigen", dazu wohl noch „verborgenen" Servituten aber wissen die Unvordeuklichkeitszeugen, die zugezogeneu alten Mütterchen, weit seltener Bescheid. Wer seinem Hause ein ewiges Recht dieser Art erwerben will, muß für Urkunden oder mindestens ein Zeichen gesorgt haben. Für gewisse Lichtrechte genügt nach französischen: Rechte zum Beispiel eii: sichtbares Merkmal, namentlich schon das Vorhandensein von Fenstern nach der betreffende!: Seite. Für die Erkerrechte des Mittelalters waren wohl die städtischen Gesetze weiter ausgebildet, jedenfalls die Rechtsgebräuche vorsichtiger und gaben dem Neidkopf eine Verbreitung, wahrscheinlich noch weit über die Grenzen der Mark und der Baar hinaus. Vielleicht findet sich ii: der Schweiz weiteres Material.
Niemand wird bestreiten, daß das deutsche Mittelalter die im römischen Rechte so berüchtigten Fragen der 86v- vitutS8 xrusäiorum urdunorum auf einfache Weise löste und dazu noch der architektonischen Ornamentik Motive gab, daran sich Geschmack und Geist des Erbauers in individuellster Weife ausprägeu konnten. Nach Einführung des bürgerlichen Gesetzbuches wird zwar jedes Recht solcher Art nur durchs Grundblich erworben und erhalten. Liebhabern bliebe es indessen unbenommen, ihre etwaigen Rechte auch in steinerner Schrift der Welt kundzuthun.
Eben entdeckt man, daß auch der Grieche seine Hypotheken- und Grundrechte auf das Haus eintrug in gemeißelten Ziffern und Namen, ein neues Zeichen, wie nahe verwandt sich der althellenische und der deutsche Geist sind, beide voll Haß gegen die Spitzfindigkeiten, die mit der Göttergabe Papier über die römische Welt ausgestreut wurden. E. v. Freydorf.
WjörnsLjerne Wjörnson.
(Zu dem Bildnis Seite 408 und 409.)
L^ser erste Schriftsteller, durch den das deutsche Publikum Ss auf die große moderne Litteraturbewegung im skandinavischen Norden aufmerksam gemacht wurde, war der Norweger Björnstjerue Björnson. Den Erfolg, den er im
