Teil eines Werkes 
Bd. 3 (1903) Goethe ; Theil 2
Entstehung
Seite
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keines? Und nun nehme man gar, das Mordorgan, der Diebs­sinn sey sehr stark entwickelt dennoch sollten sie unthätig seyn können? Wodurch sind sie dann so entwickelt worden? Gall fühlt, dass dabey die menschliche Freyheit aufhört, und will jenes gern leugnen; auf der anderen Seite aber ist er selbst so inconsequent, dass er bey einem Knaben, in welchem er eine solche Anlage sehr stark entwickelt fand, die lebenswierige Ein­sperrung anrieth. Diess schauderhafte Urtheil eines Phantasten zeigt nur zu gut, wie viel Werth er auf die Anlagen legt. Auf der anderen Seite ist aber auch die leerste Ausflucht, dass, wenn ein Organ gar nicht entwickelt ist, seine Kraftäusserung dennoch sehr stark seyn könne. Bey leichtgläubigen Menschen kann diess die Blössen des wandernden Kranioskopen bedecken, weiter nichts. Denn wie käme ein Mensch zu einer hohen Fertigkeit, ohne alle, oder wenigstens merkliche Anlage, und was wäre im Stande die grosse Anlage unthätig zu machen? Wer annehmen kann, dass 1) gewöhnlich bey den Menschen keine hervor­stechenden Organe vorkommen, dass 2) wo sie bemerkbar sind, dennoch dieselben ganz unthätig seyn können, und dass 3) wo keine sichtbar sind, dem ungeachtet die Kraftäusserung deselben sehr stark seyn könne; wer diess annehmen, und dabey auf das Aufsuchen solcher Organe am Schädel nur Eine Stunde Zeit ver­wenden kann: den können wir nicht anders als einen Thoren nennen, da er ja niemals die geringste Gewissheit erlangt, noch nach Gall erlangen kann. Dass Gall einen gemeinschaftlichen Empfindungsplatz leugnet, ist sonderbar genug; denn am Ende muss doch Einheit hervorgehen, und sein zertheiltes Bewusstseyn ist höchst widersinnig. Alle seine zum Ekel wiederholten Gründe für die Annahme eigener Organe für jedes Geistesvermögen sind sehr seicht, und es ist unbegreiflich, wie sie Jemand für über­zeugend halten kann. Es sind folgende: 1) Man ruhet aus, wenn man von einer Seelenverrichtung zu einer anderen übergeht; diess wäre nicht möglich, wenn immer die ganze Gehirnmasse thätig wäre.(Allerdings ist diess möglich, sobald die Kraftäusserung von einem höheren zu einem niederen Grade geht, oder sobald nur irgend einige Veränderung in der Wirkung des Gehirns Statt findet. Derselbe Fall ist bey unseren Muskeln, die zwar lange, allein nicht ganz auf dieselbe Art lange wirken können; endlich muss auch völlige Ruhe eintreten, diese wäre bey Gall