Anmerkungen zu„Goethe und Gall“.
heit auch durch seelische Einwirkungen entstanden sei. Reil glaubt daran eben so wie seine Vorgänger, ist also auch ätiologisch durchaus Reactionär. In Wirklichkeit ist nur die hysterische Störung psychisch entstanden und psychisch heilbar. Reil weiss zwischen Hysterie und Geisteskrankheit anderer Art durchaus nicht zu unterscheiden, nimmt zu seinen Beispielen Hysterische und wendet die Folgerungen auf Melancholische, Paranoische u. s. w. an. Man sieht dabei übrigens, dass manche hysterische Zustände, die man erst neuerdings wieder entdeckt hat, schon damals ganz gut bekannt waren, besonders die Zustände doppelten Bewusstseins, Trotz aller guten Absicht ist die von Reil empfohlene Therapie gerade so roh wie die der Früheren. Er billigt alle die unsinnigen Proceduren, die man ersonnen hatte: Stockschläge und Ochsenziemerprügel als Strafe, Peitschen mit Brennnesseln, um das Gefühl anzuregen, plötzliches In-den-Fluss-stürzen, Untertauchen bis zur Bewusstlosigkeit, Emporziehen an Stricken u. s. W. u. s. w. Bei Einrichtung einer Irrenanstalt solle man nicht vergessen, was„zur psychischen Kur der Irrenden erfordert wird: Traufen, Sturzbäder, Douchen, Höhlen, Grotten, magische Tempel“; es müsse auch eine Vorrichtung da sein,„durch welche der Kranke scheinbaren Gefahren ausgesetzt und dadurch zur Selbsthülfe aufgemuntert wird“.— Liest man Reils Buch, so gewinnt Goethes Psychiatrie beträchtlich. Man sieht, wie die Aerzte noch in dem alten Wuste steckten, und erlangt erst ein Maass für Goethes maassvolle Haltung.
Auch das sieht man, dass ein Mann wie Reil besser gethan hätte, sich nicht an Gall zu reiben, der ihn thurmhoch überragte
%) Joh. Gottlieb Walter(1. 7. 1734—93, 1. 1818), geboren zu Königsberg, wurde 1760 Prosector in Berlin, 1774 erster Professor der Anatomie. Sein Hauptverdienst war seine Sammlung anatomischer Präparate, die ihm der Staat für 100000 Thaler abkaufte. Er selbst machte Nerven-Präparate. Seine Schmähschrift gegen Gall habe ich mir trotz aller Mühe nicht verschaffen können. Jedoch sind manche Sätze daraus bei Gall citirt.
Jacob Fidelis Ackermann(23. 4. 1765—28. 10. 1875), geboren in Rüdesheim, war erst Professor der Botanik, dann Professor der Anatomie in Mainz, wurde 1804 nach Jena, 1805 nach Heidelberg berufen. Er hat allerhand geschrieben: über die Kreuzung
2
