Ein Jahr Lei den Ajaris.
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Ihr könnt Euch denken, wie müde ich war nach dem ungewohnt langen Ritt. Aber an Ausruhen war nicht zu denken; denn der Araber ist ein anspruchsvoller Gastgeber, zumal wenn er in der Abgeschiedenheit lebt und ihm das Geschick einen arabisch sprechenden „Dis-Allah", d. i. Gast Allah's, zugeführt hat. Der ganze Hofplatz war voll müßiger Zuschauer. Männer und Knaben in Hirtenkleidern, alte, zahnlose Dienerinnen in blauen Gewändern, Alles hockte im Kreise um die Thür. An dem Ausgange des Nachbarzeltes hielten sich neugierig halbverschleierte Frauen, die, sobald man einen Blick aus sie richtete, kichernd verschwanden. In dem Ehrengemach selbst, wo wir unsere müden Glieder ausruhten, hatte nur die Familie Zutritt, doch schien diese ohne Ende nach dem „Dutzend Anverwandter" zu schließen, das, den Rosenkranz in den Händen, die Pantoffeln am Eingänge abstreifend, sich zu uns aus die Matte setzte. Der dicke Si-Stander in braunem Mantel, der dünne Si-Taher in silbergrauem Burnus, unzählige Mohammeds und Alis in rothen und grünen Talaren mußten begrüßt und mit Achtung behandelt werden. Bei dem Berg von großen und kleinen, neuen und alten Schuhen an der Thürschwelle gedachte ich an das Märchen von den „Pantoffeln des Abou-Taleb", das uns Kindern einst so viel Mitleid mit dem unglücklichen Schuhverwechsler einflößte.
Als heute die zahlreiche Gesellschaft das Zimmer verließ, uns einen Augenblick Ruhe gönnend, wußte ein Jeder seine Fußbekleidung aus dem Chaos heraus zu finden, wie es denn dem Muselmann ganz unverständlich ist, daß sein Pseudolandsmann in der Hauff'schen Erzählung den Mißgriff begehen konnte, die Pantoffeln seines Nachbars mitzunehmen. (Ich hatte nämlich die Geschichte zum Besten gegeben, aber wenig Verständniß dafür gefunden.)
Nachdem wir mit Mühe etwas Wasser bekommen hatten, um uns vom Staub zu befreien, erschien der Neffe des Gastgebers, Si-Abbou, ein junger Mensch mit den Allüren eines verzogenen Kindes, dessen schönes, blasses Gesicht einen melancholischen und verweichlichten Ausdruck zeigte. Er wollte mich zu den Frauen führen, die darauf brannten, die Christin zu sehen. —
Oben in dem großen Harem, wo ich letzt schreibe, besuchte ich die Mutter des Kaids, eine alte Beduinin mit elastischen Zügen. (Die „Töchter Rezek" sind wegen ihrer Schönheit berühmt.) Ihr Weißes Haar ist hochroth gefärbt, sie ist mit Gold und Silberschmuck bedeckt, doch in der blauen Kleidung ihres Stammes. Neben ihr schwatzte und kicherte eine ganze Schar junger Weiber, darunter manch' reizendes Gesicht von schwarzen Locken eingefaßt. — In dem Hause des Kaids sind drei Familien untergebracht. Die drei Stammhäupter haben je zwei Frauen. Der Vater Kaid besitzt neben einer Beduinin eine schmachtende Tunesierin; sein achtzehnjähriger Sohn, der eben genannte Si- Abbou, ist mit deren Mutter verheirathet. Ich überlasse es Euch, diese verwickelte Verwandtschaftssrage, wie man der Schwiegervater seines Vaters sein kann, zu lösen, und will nur noch hinzufügen, daß Abbou mit der Rollen- vertheilung ganz zufrieden ist, da es seinem Vater als Kaid gebührt, die jüngere und schönere Frau zu haben.
Den Abend haben wir im Gespräch auf dem Hofplatz verbracht. Welch' herrliches Gefühl von Stille beschleicht einen in dieser Einsamkeit, wo kein Ge-