Die Berliner Theater.
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ergreifen, der Schatten des ermordeten Gatten die Liebenden trennen. Die Vorbilder, auf die Olden beständig den Blick gerichtet hat, verwirren ihm den Weg; er vergißt, daß in Zola^s Drama das ehebrecherische Paar den ahnungslosen gutmüthigen Gatten ermordet hat. während Anna und Hermann an der Ermordung LindenbergP unschuldig sind und ihr romantisches Seeleubündniß die Ehre dieses Biedermannes nie gekränkt hat; er übersieht, daß Raskolnikow die alte Kupplerin und Wucherin tödtet, um sie zu berauben , während Walter aus Liebe zu seinem Bruder ein Verbrechen begeht; daß Prophyrius, wenn er dem Mörder nachspürt, seine Pflicht als Untersuchungsrichter erfüllt, während Franzius aus seiner eigenen Mißgunst und Verdrießlichkeit heraus die Handlungen der Anderen erspäht und erlauert. Der Unklarheit der Charakteristik und der aus ihr sich entwickelnden Uebertreibung der Empfindungen entspricht die geschraubte Sprache und das verstiegene Pathos. Das Ganze ein echtes Schauspielerstück mit entliehenen Scenen als Kern der Fabel, mit Marionetten als Figuren.
Immerhin kann man ihm nachrühmen, daß es wenigstens die Grundbegriffe des Dramas, Schuld und Sühne und den Zwang zu der That, aus dem Willen des Helden heraus bestehen läßt; was Hugo Lubliner uns in seinem Werke „Der kommende Tag" als Schauspiel in vier Aufzügen vorführte, war nichts als ein gutgemeinter Vortrag über die Nothwendigkeit der Fachschulen sür die Lehrlinge, über das Elend der kranken Arbeiter und über die Morgenröthe des „kommenden Tages", den die arbeiterfreundlichen Erlasse und Denkschriften der Regierung ankündigen, in Dialogform. Das Grau der Langenweile und der geistigen Dürftigkeit lastet auf dem traurigen Stück. Welche Verirrung des Verfassers, sich in eine Arbeiterwohnung zu wagen und den Berliner Dialekt zu radebrechen! Daß der Schriftsteller seinen Stoff- und Gestaltenkreis durch die unablässige Beobachtung des Lebens zu erweitern sich bemüht, verdient die Anerkennung der Kritik, aber diese Erweiterung muß sich doch der Eigenart des Talents anschmiegen; wenn man, wie Lubliner, fünfzehn Jahre lang zierliche Püppchen aus Biscuitmasse geformt hat, kann man nicht plötzlich Steinmetz werden und den Granit bearbeiten wollen. Aber die unselige Sucht, die jetzt Alle ergriffen hat, in die soeiale Frage und die naturalistische Kunst hineinzupfuschen, ließ auch Lubliner nicht ruhen; er mußte uns seine Meinung über die Lösung des socialen Problems sagen und, während er im vergangenen Jahre in dem Schauspiel „Im Spiegel", das im Lessing-Theater aufgeführt wurde, die Dichter des Naturalismus hart angegriffen hatte, nun fetber in dem Jammer und der Armuth der Brunnenstraße arbeiten. Wenn die Arbeiterkinder nur Fachschulen hätten, ruft er aus, dann wäre Alles besser, dann wäre vielleicht auch Franz Faller Zeichner, Former oder gar Erfinder geworden! Jetzt ist er eben nichts als ein Arbeiter wie viele, aber glücklich ist er meiner Ansicht nach doch, obgleich er keine Fachschule besucht hat. Denn er hat eine allerliebste kleine Frau, Life Jehnsch, die Tochter eines Meisters in einer Maschinenfabrik, einen kräftigen Stammhalter und sein reichliches Auskommen. Nicht von innen heraus, äußerlich tritt das Unglück an ihn heran. Er erleidet durch Unachtsamkeit einen Daumenbruch und wird zu seiner Arbeit untauglich. Zwei Acte lang sehen wir ihn nun Arbeit suchen und aller Wahrscheinlichkeit nach suchte er sie noch, da kein rechter Nerv in ihm ist, wenn ihm nicht sein Schwiegervater hinter der Scene irgendwo eine Stellung verschaffte. Das Stück besteht in einer breiten und stellenweise behaglichen Schilderung kleinbürgerlicher Verhältnisse; die Wirklichkeit wird durch einen Schleier, den Sentimentalität und Berliner Humor im Stil des seligen Glaßbrenners gewoben haben, betrachtet; die Figuren, der Meister und seine Frau, Franz und Life, der ewig durstige Vater Franzens, der alte Faller, der hochnäsige, Alles besser wissende, auf bürgerliche Reputation haltende Buchhalter Hagemann und seine putzsüchtige Gattin, heben sich gut von einander ab und verderben uns nur durch ihre Geschwätzigkeit und die Wunderlichkeit ihrer Sprache das Vergnügen an dem Genrebilde, das sie uns bieten. Ein Schauspiel aber sind diese Reden, die Fachschulen, die Denkschrift der Preußischen Regierung, Lise's Kind und Franzens Daumenbruch hinter der Scene nicht; hier fehlt jede Bewegung, jede Handlung, jede Spannung, es ist die richtige