Heft 
(1892) 70
Seite
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Die Berliner Theater.

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Schöpfungen der lebenden Autoren vermag der Director, Oscar Blnmenthal, nur in seltenen Fällen seine Zuflucht zu nehmen; entweder gehören die Werke schon einem Theater oder haben durch vielfache Aufführungen das Beste ihrer Anziehungskraft ein­gebüßt. In dieser Saison hat sich diese Schwierigkeit noch verdoppelt, indem das Lessing-Theater schon im August seine Pforte wieder öffnete und jetzt auf eine vier­monatliche Spielzeit zurückblickt. Man muß dem Eifer der Leitung, dem Fleiß der Künstler volle Anerkennung zu Theil werden lassen, unentmuthigt durch manchen Fehlschlag, manchen halben Erfolg, fetzen sie ihre Bemühungen fort, dem Publicum alle vierzehn Tage eine Neuigkeit vorzuführen. An dem Beispiel dieses Theaters

tritt die Schwäche der dramatischen Production in das grellste Licht. Die Richtung in das Problematische und Trostlose, die sie seit der Verherrlichung Jbsen's eingeschlagen hat, schränkt sie auf einen engen Kreis ein und erlaubt ihr weder in der Auswahl der Stoffe noch in der Behandlung einen gefälligen Wechsel. Aber gerade danach

verlangt das Publicum des Lefsing-Theaters. Schon aus Neigung zum Gegensätze hört es bei der eigenen Sattheit einmal zwischen Mitleid und Schauer von dem Hunger der Armen und macht einen Besuch im Hinterhause, nur darf man nicht

darauf rechnen, daß ihm diese Regung zur Gewohnheit wird. Schnell genug sehnt es sich aus der Finsterniß in die Helle, aus dem Trübsinn in die Freude zurück. Das Stück, das am Sonnab end, den 1. August die Spielzeit im Lessing-Theater eröffnete, war kein glückverheißendes Zeichen für die Folge. Karl Rosegger's

Volksschauspiel in vier AufzügenAm Tage des Gerichts" ist eine steirische Dorfgeschichte in dramatischer Form. Ein Wilddieb erschießt halbwegs in der Nothwehr den Förster. Er wird verhaftet und vor das Gericht der Geschworenen geführt. Aber es hält schwer, ihn zu überführen, weil außer allgemeinen Verdachtsgründen und der ihn anklagenden Volksstimme kein zwingender Beweis gegen ihn vorliegt. Da gesteht er selbst sein Verbrechen ein, gerührt von der Güte und Bravheit der Försterin, die sich seines Weibes und seines Kindes in ihrer Verlassenheit angenommen hat. Die dramatische Bewegung wird von der breiten Schilderung des Zuständlichen bedenklich aufgehalten; ein ganzer Act, an sich der interessanteste des Schauspiels, beschäftigt sich mit der humoristischen Charakteristik der verschiedenen, in einer Zelle sitzenden Ge­fangenen. So trefflich und typisch die Schilderung dieser Strolche ist, die sich be­haglich in Gesprächen ausgeben, so wenig hat sie mit der eigentlichen Handlung zu thnn. Die Hauptfiguren, der Straßl-Toni, sein Weib und die Försterin, leiden an einer bald weichmüthigen, bald pessimistisch verzweifelnden Geschwätzigkeit, die durch den österreichischen Gebirgsdialekt noch ermüdender wirkt, wenigstens für uns Nord­deutsche, denen er fremdartig und ungewohnt klingt. Die Gerichtsscene ist nicht ohne Würde und ergreifende Wirkung, aber sie kann eben nur den Schluß, nicht das Stück als solches retten. Noch düsterer berührt das Schauspiel in vier Aufzügen von Karl Emil Franzos, das am Sonnabend, den 26. September zum ersten Male gespielt wurde. Franzos hat es nach einer seiner Erzählungen gearbeitet. Der Conflict zwischen der Pflicht des Richters und der väterlichen Liebe bildet den Angel­punkt des Drama's, der Kampf in der Seele des alten Brutus, als er nach der römischen Sage seine Söhne wegen ihrer Verrätherei zum Tode verurtheilte, wird aus der politischen in die sociale Sphäre versetzt. Ein österreichischer Gerichtspräsident erkennt in einer Kindesmörderin feine natürliche Tochter. Verführt von einem jungen Adeligen, dem es durch die Familienverhältnisie unmöglich wird, sie zu heirathen, hat sie in halber Unbewußtheit die That begangen. Welch' furchtbare Anklage richtet sich damit gegen den Präsidenten auf! Gerade so ehrlos wie der Verführer gegen seine Tochter, hat er gegen deren Mutter gehandelt. Von seinem Vater gezwungen, die Geliebte aufzugeben, hat er sie verlassen und nie wieder von ihr gehört. Jetzt läßt er die Tochter aus dem Gefängniß entfliehen und klagt sich dann selbst in einem Briefe an den Minister dieses Vergehens an. Das Schauspiel leidet an der Wieder­holung desselben Vorwurfs, der Mädchenverführnng, und der Umständlichkeit der Aus­führung; es besteht nur aus drei Scenen: der Wiedererkennung zwischen Vater und